Prädiktion und Prävention von Frühgeburten: Ein komplexes Thema

15.11.2023

Professor Dr. med. Richard Berger ist eine herausragende Persönlichkeit in der Welt der Geburtshilfe und Frauenheilkunde. Als Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Marienhaus Klinikum St. Elisabeth Neuwied, mit knapp 2.000 Geburten im Jahr das größte im nördlichen Rheinland-Pfalz. Das zertifizierte Gynäkologische Krebszentrum hat sich als führende Anlaufstelle in der Region für Patientinnen mit malignen Erkrankungen des weiblichen Genitaltrakts etabliert. Auch das Brustzentrum bietet die optimale Diagnostik und Therapie an. Die enorme Qualität wird ebenfalls durch eine umfangreiche Zertifizierung garantiert. Hier wird eine hochspezialisierte und oft komplexe Therapie auf dem höchsten medizinischen Standard durchgeführt. Dies wird gewährleistet durch ein sorgfältig koordiniertes Netzwerk von Experten aus verschiedenen medizinischen Disziplinen, die innerhalb des Zentrums zusammenarbeiten. Die Expertise von Prof. Dr. Berger richtet sich besonders auf die Perinatalmedizin, was die spezialisierte Betreuung von Müttern und ihren ungeborenen Kindern während der Schwangerschaft und darüber hinaus umfasst. Das Perinatalzentrum verfügt über eine Tür-an-Tür-Kooperation mit der Frühgeborenen-Intensivstation, was sicherstellt, dass Risiko- und Mehrlingsschwangerschaften erstklassig versorgt werden. Dies ist besonders wichtig, da jährlich etwa 50 Kinder mit einem Geburtsgewicht von unter 1.500 Gramm zur Welt kommen. Prof. Dr. Berger hat eine Arbeitsgruppe zur Frühgeburtenforschung ins Leben gerufen und koordiniert die Leitlinie zur Prävention und Therapie der Frühgeburt für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Diese Aufgabe stellt einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung für schwangere Frauen dar. Die Prädiktion und Prävention von Frühgeburten sind von großer Bedeutung, da Frühgeburten mit erhöhten Risiken für das Neugeborene verbunden sind. Die Redaktion des Leading Medicine Guide sprach mit Prof. Dr. Berger über dieses spannende Thema.

prof dr med richard berger leading medicine guide

Frühgeburten sind ein medizinisches Phänomen, das weltweit eine große Herausforderung für die Gesundheitsversorgung darstellt. Sie treten auf, wenn Babys vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren werden, und können mit einer Vielzahl von gesundheitlichen Risiken für die Neugeborenen verbunden sein. Das Verständnis, die Prädiktion und die Prävention von Frühgeburten sind von großer Bedeutung, um die Gesundheit der Mutter und des Kindes zu schützen. 

Die Prädiktion von Frühgeburten ist von entscheidender Bedeutung, um frühzeitige Interventionen zu ermöglichen und das Risiko für Mutter und Kind zu minimieren. 

Eine Vielzahl von prädiktiven Faktoren und Frühwarnzeichen kann medizinischen Fachkräften dabei helfen, Frühgeburten frühzeitig zu erkennen. Dazu gehören unregelmäßige oder schmerzhafte Wehen vor der 37. Schwangerschaftswoche, vaginale Blutungen, ein vorzeitiger Blasensprung und das Tragen von Zwillingen, Drillingen oder mehreren Kindern. Frauen, die bereits eine Frühgeburt erlebt haben, haben ein erhöhtes Risiko, erneut eine Frühgeburt zu haben. Manchmal sind auch einfache Rückenschmerzen ein Warnzeichen oder ein hart werdender Bauch“, beginnt Prof. Dr. Berger unser Gespräch. Anomalien der Gebärmutter, Infektionen im Genitalbereich oder im Urintrakt, Schwangerschaftskomplikationen wie Präeklampsie oder Gestationsdiabetes sowie Tabak-, Alkohol- und Drogenkonsum während der Schwangerschaft sind definitive Risikofaktoren. „Auch psychosoziale Faktoren wie hoher Stress und ein Mangel an sozialer Unterstützung können sich negativ auf den Schwangerschaftsverlauf auswirken. Frauen aus einem sozialschwierigen Umfeld sind auch einem höheren Risiko einer Frühgeburt ausgesetzt. Aufgrund der immer noch bestehenden Coronaerkrankungen empfehlen wir auch Schwangeren sich gegen Covid (und auch gegen Influenza) impfen zu lassen“, ergänzt Prof. Dr. Berger.

Ein verkürzter Gebärmutterhals (Cervix) kann ebenfalls auf ein erhöhtes Frühgeburtsrisiko hinweisen. 

Die Cervix spielt eine entscheidende Rolle in der Schwangerschaft, da sie das ungeborene Kind vor Infektionen schützt. Normalerweise bleibt die Cervix während der Schwangerschaft lang und verschlossen. Das heißt, wenn der Gebärmutterhals zu früh sich verkürzt, unter 25 mm vor der 24. Woche, kann dies das Risiko einer Frühgeburt erhöhen, da die Gefahr besteht, dass die Cervix sich zu früh öffnet und die Wehen einsetzen, bevor das Kind ausreichend entwickelt ist. Daher ist es wichtig, die Cervixlänge regelmäßig zu messen. Dies geschieht mithilfe eines speziellen Ultraschallverfahrens, dem transvaginalen Ultraschall, eine nicht-invasive Methode, bei der ein Ultraschallgerät mit einem vaginalen Schallkopf in die Vagina eingeführt wird, um den Gebärmutterhals und den Fötus zu visualisieren“, erklärt Prof. Dr. Berger die wichtige Rolle des Gebärmutterhalses.

Gelbkörperhormone, auch als Progesteron bezeichnet, spielen im Zusammenhang mit der Länge des Gebärmutterhalses eine wichtige Rolle. „Progesteron ist ein Hormon, das in den Eierstöcken von Frauen produziert wird und dazu beiträgt, die Muskulatur der Gebärmutter zu entspannen und den Gebärmutterhals stabil und geschlossen zu halten. Dies ist wichtig, um vorzeitige Wehen und eine mögliche Frühgeburt zu verhindern. Wenn eine Dysbalance im Progestoronmetabolismus auftritt, kann dies eben zu einer Verkürzung des Gebärmutterhalses führen, da die Gebärmuttermuskulatur unkontrolliert kontrahiert und den Gebärmutterhals verkürzt. In solchen Fällen kann eine hormonelle Therapie mit Progesteron in Erwägung gezogen werden, um den Gebärmutterhals zu stabilisieren und das Risiko einer Frühgeburt zu reduzieren“, schildert Prof. Dr. Berger.

Das Zunähen des Muttermunds, eine Prozedur, die als Zervixzerklage oder zervikale Zerklage bezeichnet wird, kann in bestimmten Situationen in Betracht gezogen werden, um das Risiko einer Frühgeburt zu minimieren. 

Dieser Eingriff wird normalerweise dann durchgeführt, wenn eine Frau während der Schwangerschaft eine Zervixinsuffizienz hat, bei der der Muttermund sich vorzeitig öffnet oder verkürzt, was ein potenzieller Risikofaktor für Frühgeburten ist. Zervixzerklage kann bei Frauen angewendet werden, die bereits in früheren Schwangerschaften Frühgeburten hatten oder bei denen eine Verkürzung des Gebärmutterhalses diagnostiziert wurde. Der Eingriff kann dazu beitragen, den Muttermund vorzeitig zu verschließen oder zu stabilisieren, um vorzeitige Wehen und eine Frühgeburt zu verhindern. In der Regel wird eine Zervixzerklage ab der 14. Schwangerschaftswoche durchgeführt und der Faden oder die Nahtmaterialien werden nach der Operation nicht entfernt. Das Zunähen kann dazu beitragen, den Gebärmutterhals während der Schwangerschaft geschlossen zu halten und das Risiko einer Frühgeburt zu minimieren“, führt Prof. Dr. Berger weiter aus.

Eine weitere führende Ursache für Frühgeburten liegt in bakteriellen Infektionen der Vaginalregion, auch bekannt als bakterielle Vaginose. 

Diese Infektionen ermöglichen es Bakterien, in die Gebärmutter aufzusteigen und können vorzeitige Wehen oder das vorzeitige Platzen der Fruchtblase auslösen“ erläutert Prof. Dr. Berger die Risiken. Die Prädiktion von Frühgeburten erfordert immer eine individuelle Beurteilung, da die Risiken je nach Schwangerschaft variieren. Eine enge Zusammenarbeit zwischen schwangeren Frauen und ihren medizinischen Betreuern ist daher entscheidend, um Risiken zu bewerten und angemessene Maßnahmen zu ergreifen.


Auch der Klimawandel hat eine Steigerung der Frühgeburten verursacht. Denn dieser führt auch in unseren Breitengraden zu häufigeren und intensiveren Hitzewellen. Übermäßige Hitze kann Stress und Unwohlsein bei schwangeren Frauen verursachen, was das Risiko von Komplikationen in der Schwangerschaft, einschließlich Frühgeburten, erhöhen kann. Auch eine langfristige Exposition gegenüber Luftverschmutzung kann das Risiko von Präeklampsie und anderen Gesundheitsproblemen während der Schwangerschaft erhöhen, was Frühgeburten begünstigen kann.


Frühgeburten werden in unterschiedliche Stadien eingeteilt, je nachdem, in welcher Phase der Schwangerschaft sie auftreten. Diese Einteilung hilft dabei, die erforderlichen lebenserhaltenden Maßnahmen festzulegen. 

Späte Frühgeburt (Geburt in der 34. bis 36. Schwangerschaftswoche): Dieses Stadium wird manchmal auch als "späte Frühgeburt" bezeichnet. Babys, die in diesem Stadium geboren werden, haben in der Regel bereits einige wichtige Entwicklungsmeilensteine erreicht. Sie haben eine höhere Überlebenschance und benötigen kaum intensivmedizinische Unterstützung. Die lebenserhaltenden Maßnahmen können in erster Linie darauf abzielen, die Atemwege des Kindes freizuhalten und die Körperfunktionen zu unterstützen.

Moderate Frühgeburt (Geburt in der 30. bis 34. Schwangerschaftswoche): Bei Frühgeburten in diesem Stadium sind die Babys noch weniger entwickelt. Sie benötigen normalerweise intensivere Unterstützung, einschließlich Atemhilfe, Überwachung und medizinischer Versorgung. Das Ziel besteht darin, die lebenswichtigen Organe zu unterstützen und mögliche Komplikationen zu managen.

Extrem frühe Frühgeburt (Geburt vor der 30. Schwangerschaftswoche): In diesem Stadium sind Babys besonders unreif und sehr anfällig für gesundheitliche Komplikationen. Die lebenserhaltenden Maßnahmen sind äußerst komplex und können die Verabreichung von Medikamenten zur Entwicklung der Lunge, kontinuierliche Beatmung, Ernährung durch intravenöse Zugänge und spezialisierte Pflege in Neonatologie-Einheiten beinhalten. „Bei einer extrem frühen Frühgeburt ist das Risiko sehr hoch, dass das Kind lebenslange Schäden erleidet. Man muss sich vorstellen, dass ein Frühchen mit nur 22 Wochen außerhalb der Gebärmutter theoretisch lebensfähig ist. Allerdings kommt dies nur bei 0,1 % aller Geburten vor und ist somit sehr selten“, kommentiert Prof. Dr. Berger.

Ein Frühchen, das in einem Inkubator lebt, verbringt seine ersten Wochen oder Monate in einer speziellen Brutstätte, die medizinisch überwacht und kontrolliert ist. Diese Inkubatoren schaffen eine Umgebung, die die Bedürfnisse von Frühgeborenen erfüllt und sie vor äußeren Einflüssen schützt.

Inkubatoren, also Brutkästen für Frühgeborene gibt es seit den 1960er Jahren. In einem Inkubator wird die Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffkonzentration genau reguliert, um die Anpassungsfähigkeit des unreifen Organismus zu unterstützen. Die Frühchen werden in spezielle Matratzen oder Polster eingebettet, um Druckstellen und Hautreizungen zu verhindern. Sie erhalten Nahrung und Flüssigkeit über Infusionen oder spezielle Sonden. „Eltern werden von uns ermutigt, so viel wie möglich bei ihren Frühchen zu sein. Sie können durch das Streicheln und Halten ihrer Babys im Inkubator eine enge Bindung aufbauen, auch wenn das Baby sehr klein ist. Auch für das Baby ist der direkte Kontakt vor allem zur Mutter wichtig – wir haben daher das Konzept des `kangorooing´ entwickelt. Hierbei werden die Frühgeborenen eine bis mehrere Stunden nur mit einer Windel bekleidet auf den unbekleideten Oberkörper der Mutter oder auch des Vaters gelegt. Darüber hinaus bieten wir hier im Marienhaus Klinikum digitale Kameras für Eltern, damit sie von Zuhause aus ihr Baby über eine App im Brutkasten sehen können“, erklärt Prof. Dr. Berger das weitere Vorgehen und ergänzt: „Wir sind ein Level 1 Perinatal Zentrum. Das bedeutet, dass wir auf die Betreuung von Risikoschwangerschaften und Hochrisikogeburten spezialisiert und in der Lage sind, eine umfassende Versorgung sowohl für Mutter als auch für das Neugeborene zu bieten, wenn besondere medizinische Probleme oder Komplikationen während der Schwangerschaft oder der Geburt auftreten“.


Schwangere Frauen haben verschiedene Möglichkeiten, das Risiko einer Frühgeburt zu minimieren. Eine gesunde Ernährung ist ebenfalls entscheidend. Schwangere sollten sicherstellen, dass sie ausreichend Nährstoffe wie Folsäure, Eisen, Kalzium und Protein zu sich nehmen. Ein gesundes Gewicht vor und während der Schwangerschaft ist ein weiterer Schlüssel zur Risikominimierung. Übergewicht oder Untergewicht können das Risiko für Frühgeburten erhöhen, daher ist eine angemessene Gewichtszunahme empfehlenswert. Rauchverzicht und Alkoholabstinenz sind nicht verhandelbare Maßnahmen, um das Frühgeburtenrisiko zu senken. Beide Substanzen haben nachgewiesenermaßen schädliche Auswirkungen auf die Schwangerschaft. Ähnlich wichtig ist das Management von Stress. Chronischer Stress kann Frühgeburten begünstigen, daher sollten Schwangere Wege zur Stressbewältigung finden. Infektionen, insbesondere Harnwegsinfektionen und sexuell übertragbare Krankheiten, können ebenfalls Frühgeburten auslösen. Schwangere sollten Vorkehrungen treffen, um sich vor Infektionen zu schützen. Vorsicht ist auch geboten, um Verletzungen zu vermeiden, da Unfälle und Verletzungen vorzeitige Wehen auslösen können.


In der Forschung und Technologie gibt es kontinuierliche Fortschritte, um die Prädiktion von Frühgeburten zu verbessern. 

Genetische Marker und Biomarker werden identifiziert, um ein genaueres Risikoprofil zu erstellen. Modernste Bildgebungstechnologien erlauben eine präzisere Beurteilung des Gebärmutterhalses und der fetalen Entwicklung. Die Anwendung von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen auf große Datensätze ermöglicht die Erkennung von komplexen Risikomustern. Telemedizin und tragbare Geräte ermöglichen die kontinuierliche Überwachung von Schwangeren. Prädiktive Modelle werden immer ausgefeilter, um individuelle Risiken vorherzusagen. Personalisierte Medizin integriert genetische Informationen, medizinische Daten und Lebensstilfaktoren. Automatisierte Frühwarnsysteme nutzen Algorithmen, um Risiken in Echtzeit zu erkennen. Diese Fortschritte führen zu genaueren Vorhersagen und einer besseren Versorgung von Schwangeren mit einem erhöhten Risiko für Frühgeburten. Die laufende Forschung in diesem Bereich ist von entscheidender Bedeutung, um die Gesundheit von Müttern und Neugeborenen zu schützen.

Wir haben in Neuwied eine Patientenleitlinie entwickelt und diese in Laiensprache verfasst (https://register.awmf.org/assets/guidelines/015-025p_S2k_Praevention-Therapie_Fruehgeburt_2022-08.pdf) um unseren Patientinnen die bestmöglich zusammengestellten Informationen anzubieten. Darüber hinaus steht unsere Klinik unter den besten b10 von insgesamt 160 Perinatal Zentren in Deutschland und dürfen uns darüber freuen, eine extrem niedrige Hirnschadenrate bei Frühgeborenen zu verzeichnen. Wünschenswert wäre es, wenn es noch bessere Prädiktoren für asymptomatische Patientinnen gäbe, also bei den Frauen, die trotz eines verkürzten Gebärmutterhalses (Zervix) und einem erhöhten Risiko für Frühgeburten keine sichtbaren oder spürbaren Symptome oder Anzeichen einer bevorstehenden Frühgeburt haben. Und einen Appell möchte ich noch loswerden: Deutschland, mach mal mehr Lobby für die Frühchen“, wünscht sich Prof. Dr. Berger und beendet damit unser Gespräch.

Sehr geehrter Herr Professor Dr. Berger, vielen Dank für das so anschauliche Gespräch und den wichtigen Einblick in das Leben der Frühgeborenen!

Whatsapp Facebook Instagram YouTube E-Mail Print