Dissoziative Identitätsstörung - Spezialisten und Informationen

23.07.2024
Dr. med Gustav Wirtz
Medizinischer Fachautor

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine seltene chronische psychische Störung. Sie heißt auch Multiple Persönlichkeitsstörung. Betroffene nehmen ungewollt mehrere Persönlichkeitszustände mit verschiedenen Identitäten an. Diese Persönlichkeiten übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der betroffenen Person.

Hier finden Sie weiterführende Informationen sowie ausgewählte Spezialisten und Zentren für dissoziative Identitätsstörungen.

ICD-Codes für diese Krankheit: F44.81

Artikelübersicht

Definition der dissoziativen Identitätsstörung

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist die schwerwiegendste Form einer dissoziativen Störung. Sie ist auch als „Multiple Persönlichkeitsstörung" bekannt.

Die Erkrankung beinhaltet alle bedeutsamen Elemente einer dissoziativen Störung.

Im Rahmen der Erkrankung können folgende Symptome auftreten:

  • Dissoziative Amnesien (Gedächtnisverlust)
  • Fugue-Zustände (plötzliches, unerwartetes und zielloses Weglaufen ohne feststellbaren Grund)
  • Starkes Depersonalisationserleben (d.h. das Selbst und der eigene Körper wird als fremdartig und unwirklich wahrgenommen)
  • Derealisationserleben (d.h. die Umwelt wird als fremd wahrgenommen)

Dissoziative IdentitätsstörungBei der dissoziativen Identitätsstörung (früher multiple Persönlichkeitsstörung) bestehen zwei oder mehrere Identitäten in derselben Person @ von Lieres /AdobeStock

Dissoziative Identitätsstörung als chronische Störung

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine chronische Störung.

Normalerweise sind die beschriebenen dissoziativen Störungen laut Krankheits-Klassifikationssystemen DSM-IV und ICD-10 zeitlich begrenzt.

Erfolgt bei einer dissoziativen Identitätsstörung keine sachgerechte Behandlung, kann sie dauerhaft bestehen bleiben. Im Laufe des Lebens kann sie sich in unterschiedlichen Formen manifestieren.

Existenz mehrerer Teilpersönlichkeiten

Die multiple Persönlichkeitsstörung ist einer der ungewöhnlichsten psychischen Zustände. Der Betroffene spaltet sich in mehrere, scheinbar separate und unabhängige Teilpersönlichkeiten auf.

Sie bestimmen abwechselnd das Verhalten eines Menschen. Das wirkt auf manche Menschen ungeheuer faszinierend und veranlasst andere dazu, vehemente Empörung zum Ausdruck zu bringen.

Die Existenz solcher Teilpersönlichkeiten innerhalb eines Individuums schwächt die allgemein akzeptierten Annahmen über die Einheit der Persönlichkeit und Bewusstseinsstruktur.

Schwierigkeit der Zuordnung von Symptomen

Darüber hinaus können fast alle Symptome auftreten, die viele andere psychiatrische Erkrankungen charakterisieren. Die Zuordnung psychopathologischer Syndrome und komorbider (zusätzlich auftretender psychischer) Störungen kann daher sehr schwierig sein.

Dissoziative IdentitätsstörungBei einer dissoziativen Identitätsstörung spaltet sich das Ich einer Person in unterschiedliche Persönlichkeiten auf, die dann alle ein Eigenleben führen @ Lazy_Bear /AdobeStock

Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung

Die Geschichte der dissoziativen Identitätsstörung verläuft parallel zur modernen Psychiatrie.

Jean-Martin Charcot (1825-1893) und seine Mitarbeiter Babinski (1857-1932), Bernheim (1840-1919) und Janet (1859-1947) erforschten das Phänomen intensiv.

Sie machten dissoziative Phänomene im Allgemeinen und die „multiple Persönlichkeitsstörung" im Besonderen zu einem zentralen Punkt ihrer Theorien.

In den USA fand eine ähnliche Entwicklung statt. Die wichtigsten Vertreter, William James (1842-1910) und Morton Prince (1854-1929) hatten persönliche Erfahrungen mit DIS-Patienten.

Aufgrund dieser Erfahrungen setzten sie sich mit dem Wesen des Bewusstseins und der Organisation der Psyche auseinander.

Selbst Freud erforschte zu Beginn seines Schaffens das Wesen des Doppel-Bewusstseins (z.B. Fall Anna O. in Breuer). Später entwickelte Freud jedoch seine psychodynamische Theorie. In deren Mittelpunkt steht kurz gesagt nicht die Dissoziation, sondern die Verdrängung und andere unbewusste Mechanismen.

Pierre Janet prägte den Begriff der Dissoziation als Desintegration und Fragmentierung des Bewusstseins. Er beschrieb ein bis heute gültiges Diathese-Stress-Modell.

Es dient als Basis für aktuelle Theorien zur Dissoziation, wie z.B. die Theorie der Strukturellen Dissoziation.

Die Krankheit der dissoziativen Identitätsstörung kam erstmals 1980 in ein psychiatrisches Klassifikationssystem (DSM-III, APA 1980). 1991 erfolgte die Aufnahme auch in die ICD-10.

Häufigkeit der Multiplen Persönlichkeitsstörung

Laut ICD-10 ist die dissoziative Identitätsstörung eine seltene Störung. Sie weist eine ähnliche Häufigkeit auf wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Schätzungen zufolge sind 1-3 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen. Bei Patienten in psychiatrischer Behandlung sind es 5 Prozent, die von einer dissoziativen Identitätsstörung betroffen sind. Die dissoziative Identitätsstörung ist nicht selten.

Frauen scheinen viel häufiger von der dissoziativen Identitätsstörung betroffen zu sein als Männer.

Patienten erhalten häufig eine Fehldiagnose. Ärzte erkennen die Störung nicht oder stellen eine falsche Diagnose.

Dies betrifft vermutlich auch andere dissoziative Störungen. Daher erhalten die Patienten häufig auch keine psychotherapeutische Behandlung. Oder aber sie profitieren nicht davon.

Eine frühzeitige Diagnostik macht eine störungsspezifische Psychotherapie möglich. Damit lässt sich der Erkrankungsverlauf der dissoziativen Identitätsstörung günstig beeinflussen.

Ursachen der psychischen Störung

Verschiedene Studien versuchten bereits herauszufinden, warum Menschen an einer dissoziativen Identitätsstörung leiden. Dabei zeigen sich signifikante physiologische Unterschiede zwischen den DIS-Patienten und den Kontrollpersonen.

Diese Unterschiede drücken sich in einer Vielfalt von Verhaltensweisen aus.

Dazu gehören unter anderem:

  • Sehschärfe
  • Reaktionen auf Medikamente
  • Allergien
  • Hautleitfähigkeit
  • Plasma Glukose-Spiegel bei Patienten mit Diabetes mellitus
  • Herzfrequenz
  • Blutdruck
  • Galvanische Hautleitfähigkeit
  • Muskelspannung
  • Lateralisation (Aufteilung von Prozessen auf die rechte bzw. linke Hirnhälfte)
  • Immunfunktionen
  • EEG Muster und Muster evozierter Potentiale
  • Aktivierungen in der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT)
  • Hirnaktivierung und
  • Regionaler zerebraler Blutfluss erfasst mit Single Photon Emission Computed Tomography (SPECT) und Positron Emission Tomography (PET)

Insgesamt zeigen DIS-Patienten eine größere physiologische Variabilität zwischen ihren Identitäten als simulierte Identitäten bei den Kontrollprobanden.

Diese Variabilität ist größer als die Art reproduzierbarer Unterschiede, die zwischen verschiedenen Individuen gefunden werden.

Studien zeigen psychobiologische Unterschiede zwischen den Identitäten, wenn sie ein Trauma-Script hörten, das sie an nur eine Identität erinnerte.

Diese Unterschiede beinhalteten:

  • Subjektive sensomotorische und emotionale Reaktionen 
  • Psychophysiologische Reaktionen wie Puls und Blutdruck als auch 
  • Muster regionalen zerebralen Blutflusses (lässt sich mittels Positronen-Emissions Tomographie messen)

Diese psychobiologischen Unterschiede existieren jedoch nicht, wenn jede der alternativen Identitäten abwechselnd ein neutrales, nicht-traumatisches, autobiografisches Erinnerungs-Script hört.

Traumatische Erlebnisse im Kindesalter

Darüber hinaus gibt es die Hypothese, dass wechselnde Identitäten aus traumatischen Erlebnissen der Kindheit entstehen.

Traumatische Erlebnisse vor dem fünften Geburtstag machen es Kindern schwer, ein vereinheitlichtes Selbstgefühl zu entwickeln.

Diese Schwierigkeiten finden oft im Zusammenhang mit Beziehungs- oder Bindungs-Zusammenbrüchen statt. Sie können Vorläufer und Vorbereiter von Missbrauch und der Entwicklung von dissoziativem Verarbeiten sein.

Schwere und langwierige traumatische Erlebnisse können zur Entwicklung von abgegrenzten, personifizierten Verhaltenszuständen (d.h. bruchstückhaften Persönlichkeitsanteilen) in dem Kind führen.

Diese haben dann eine Einkapselung von Erinnerungen, Gefühlen, Überzeugungen und Verhaltensweisen zur Folge. Sie haben großen Einfluss auf die Gesamtentwicklung des Kindes.

Eine sekundäre Strukturierung dieser abgegrenzten Verhaltenszustände findet über einen längeren Zeitraum durch verschiedene Entwicklungs- und symbolische Mechanismen statt.

Sie hat schließlich die Charakterzüge der spezifischen Persönlichkeitsanteile zur Folge.

Diese Anteile können sich in Anzahl, Komplexität und dem Gefühl der Getrenntheit noch entwickeln, während das Kind älter wird.

Die dissoziative Identitätsstörung entwickelt sich während der Kindheit. Selten ergibt sie sich aus Traumata im Erwachsenenalter.

PsychoanalyseEine dissoziative Identitätsstörung (multiple Persönlichkeitsstörung) entsteht häufig durch schwere traumatische Erfahrungen in der Kindheit @ New Africa /AdobeStock

Statt Aufspaltung einer Kernidentität Entwicklung mehrerer Persönlichkeiten

Die Theorie der „strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit" versucht eine einheitliche Theorie der Dissoziation abzubilden, die die dissoziative Identitätsstörung einbezieht.

Diese Theorie nimmt an, dass Dissoziation das Ergebnis einer fehlerhaften Integration von Ideen- und Funktionssystemen der Persönlichkeit ist.

Nachdem die Persönlichkeit traumatisierende Ereignisse erlebt hat, teilt sie sich in einen normalen und einen emotionalen Teil auf.

Der normale Teil der Persönlichkeit ist zuständig für das alltägliche Funktionieren, der emotionale Teil für die Verteidigung.

Verteidigung bezieht sich auf die psychobiologischen Funktionen des Überlebens, die bei einer Lebensbedrohung eintreten. 

Dazu gehören:

  • Kampf
  • Flucht und 
  • Erstarrung

Annahmen zufolge führen chronische Traumatisierung und/oder Vernachlässigung zu sekundären strukturellen Dissoziationen.

Ätiologische Modelle besagen, dass die dissoziative Identitätsstörung nicht aus einer zerbrochenen oder verletzten Kernpersönlichkeit entsteht.

Grundlage der dissoziativen Identitätsstörung ist daher ein Versagen der normalen entwicklungsbedingten Integration. Meist durch überwältigende Erfahrungen oder durch eine gestörte Betreuer-Kind-Interaktion während der frühen Entwicklungsperioden.

Dazu gehören:

  • Vernachlässigungen und
  • Fehlendes Reagieren

Dies führt dazu, dass manche Kinder relativ abgegrenzte, personifizierte Verhaltenszustände entwickeln, die schließlich zu DIS-Persönlichkeitsanteilen werden.

Kontroverse über die Ursachen der dissoziativen Identitätsstörung

Manche Autoren glauben, dass Psychologen die dissoziative Identitätsstörung erzeugen, weil sie daran glauben und ihre Patienten beeinflussen.

Nach diesem soziokognitiven Modell ist die dissoziative Identitätsstörung nur eine sozial konstruierte Kondition, die aus folgenden Elementen besteht:

  • Stichworten des Psychologen (z.B. suggestives Fragen nach der Existenz von möglichen wechselnden Identitäten)
  • Medieneinfluss (z.B. Film und Fernsehporträts von dissoziativen Identitätsstörungen) und
  • Weitergreifende soziokulturelle Erwartungen

Befürworter des soziokognitiven Modells glauben, dass das Buch und der Film Sybil in den 70ern eine Rolle gespielt hat.

Studien zeigen jedoch, dass Suggestion, Ansteckung oder Hypnose keine dissoziative Identitätsstörung hervorrufen kann. Es ist auch nicht möglich, sie über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.

Symptome der dissoziativen Identitätsstörung

Die American Psychiatric Association und die Weltgesundheitsorganisation haben die dissoziativen Störungen zwar charakterisiert. Sie haben aber die Eigenschaften nicht vollständig beschrieben.

Das entscheidende Merkmal ist jedoch eine Unterbrechung der normalerweise integrierten Funktionen von Bewusstsein, Gedächtnis, Identität, oder Wahrnehmung.

Es ist Gegenstand von anhaltenden Diskussionen, wie weit gefasst oder eng die Definition von Dissoziation ist.

Putnam (2003) beschrieb den Dissoziationsprozess als einen normalen Vorgang, mit traumatisierenden Erlebnissen umzugehen.

Dieser entwickelt sich aber zu einem dysfunktionalen oder pathologischen Prozess weiter. Es entstehen Veränderungen des Bewusstseins, die durch ein Gefühl der Abspaltung von dem Selbst und/oder der Umwelt charakterisiert sind.

Negative dissoziative vs. positive dissoziative Symptome

Es gibt negative dissoziative und positive dissoziative Symptome.

Bei negativen dissoziativen Symptomen entsteht eine Abnahme oder Aufhebung des psychologischen Prozesses.

Beispiele sind:

  • Gedächtnisverlust
  • Depersonalisation in Verbindung mit einer Spaltung zwischen dem erlebenden und dem beobachtenden Persönlichkeitsanteil
  • Verlust von Charakterzügen

Bei den positiven dissoziativen Symptomen liegt eine Erzeugung oder Überzeichnung eines psychologischen Prozesses vor.

Beispiele sind:

  • Stimmenhören, gemachte Emotionen, Gedanken und Ideen
  • Wiedererlebens traumatisierender Ereignisse, z. B. bestimmte visuelle und auditive Wahrnehmungen, Affekte und Ideen
  • Wechsel zwischen verschiedenen dissoziierten Persönlichkeitsanteilen
  • Störung, bei der es zu einer relativ langfristigen Aktivierung eines psychotischen dissoziierten Anteils kommt

Die Definition von Dell und O'Neil (2009) arbeitet das zentrale Konzept der Unterbrechung des DSM-IV-TR aus: „Pathologische Dissoziation manifestiert sich im Wesentlichen in einer teilweisen oder vollständigen Unterbrechung der Integration psychischer Prozesse einer Person.

Im Besonderen kann Dissoziation das Bewusstsein und das Erleben unterbrechen, verändern oder eindringen.

Betroffen sein können:

  • Körper
  • Verstand
  • Handlungsfähigkeit
  • Denken
  • Glauben
  • Wissen
  • Erkennen
  • Erinnern
  • Fühlen
  • Wollen
  • Sprechen
  • Handeln
  • Sehen
  • Hören
  • Riechen
  • Schmecken
  • Berühren

Betroffene erleben diese Unterbrechungen typischerweise als alarmierendes, autonomes Eindringen in das gewohnte Reagieren oder Funktionieren.

Die am häufigsten vorkommenden dissoziativen Intrusionen umfassen:

  • das Hören von Stimmen
  • Depersonalisation
  • Derealisation „gemachter" Gedanken
  • Drang
  • Wünsche
  • Emotionen und Handlungen

Dissoziative Prozesse zeigen unterschiedliche Erscheinungsformen, von denen viele nicht pathologisch sind. Diese laufen automatisch und reflexartig ab. Sie sind ein Teil einer kurzen, zeitlich begrenzten, normalen biologischen Reaktion, die verschwindet, sobald die Gefahr vorüber ist.

Die Beziehung zwischen der dissoziativen Reaktion und der Stärke und Eigenschaft der Dissoziation ist bisher noch unklar.

Dissoziative IdentitätsstörungSchätzungen zufolge sind 1-3 Prozent der Gesamtbevölkerung betroffen @ Natalia Klenova /AdobeStock

Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung

Grund für die Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung der dissoziativen Identitätsstörung ist in erster Linie die unzureichende Ausbildung zum Thema.

Obwohl die dissoziative Identitätsstörung eine relativ verbreitete Erkrankung ist, machen nur 6 Prozent der Betroffenen ihre Erkrankung öffentlich.

Statt die verschiedenen Identitäten zu zeigen, zeigen typische DIS-Patienten dissoziative und andere Traumafolge-Symptomen.

Diese sind beispielsweise:

  • Depressive Symptome
  • Angstsymptome
  • Symptome von Substanzabhängigkeit
  • Essstörungen

Die letztgenannten Symptome führen oft dazu, dass Ärzte nur diese Erkrankung diagnostizieren.

Erfragen von dissoziativen Symptomen

Standardinterviews und die Methoden für den psychopathologischen Befund beinhalten leider oft keine Fragen zu dissoziativen und posttraumatischen Symptomen. Auch früher erlebte psychische Traumata sind nicht enthalten.

DIS-Patienten geben nur selten Informationen zu dissoziativen Symptomen preis. Daher können nur gezielte Fragen nach dissoziativen Symptomen eine korrekte Diagnose gewährleisten.

Die Grundvoraussetzung für die Diagnose einer dissoziativen Identitätsstörung ist daher das aktive Erfragen von dissoziativen Symptomen. Das freie klinische Gespräch sollte strukturiert und mit Screening-Fragebögen erfolgen. Beide sollten das (Nicht)-Vorhandensein von dissoziativen Symptomen und Störungen untersuchen.

Bei Screening-Instrumenten (Fragebögen) ist zu beachten, dass hohe Werte allein nicht für die Diagnose einer dissoziativen Störung ausreichen. Hier ist eine weitere differentialdiagnostische Abklärung in klinischen Gesprächen oder strukturierten Interviews notwendig.

In der praktischen Arbeit kommen die Screening-Instrumente zur Abklärung von Art und Ausmaß der dissoziativen Symptomatik zum Einsatz. Es besteht auch die Möglichkeit, durch gezielte Fragen mit einer Person in ein Gespräch über ihr Erleben zu kommen.

Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS)

Das wohl häufigste eingesetzte Screening-Instrument ist der Fragebogen zu dissoziativen Symptomen. Der FDS hat 44 Items, die Bearbeitung dauert etwa 20 Minuten.

Befragte bewerten auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent, wie oft vorgegebene Beispiele für dissoziative Erfahrungen im Alltag vorkommen.

Die Items gehören zu den Subskalen Absorption, Derealisation/Depersonalisation, Amnesie und Konversion.

Die Auswertung erfolgt über die Mittelwertbildung. Der errechnete Wert heißt FDS.

Klinisch relevant sind alle Gesamtwerte (Gesamtmittelwerte) über 12 als Hinweise für eine leichte dissoziative Symptomatik.

Bei Gesamtwerten über 25 ist der Verdacht auf eine dissoziative Störung durch ein strukturiertes Interview zu klären.

SKID-D (strukturiertes klinische Interview für dissoziative Störungen nach DSM)

Für den deutschen Sprachraum stellt das strukturierte klinische Interview das Mittel der Wahl dar. Das SKID-D ermöglicht die Diagnosestellung anhand operationalisierter Kriterien.

Es gibt 277 Items, die im Rahmen eines halbstrukturierten Interviews Hinweise hinsichtlich Art und Schwere der dissoziativen Kernsymptome liefern.

In die Auswertung fließen neben den Antworten auch beobachtete dissoziative Symptome ein.

Beispiele für beobachtete Symptome sind:

  • Amnesie für vorherige Fragen
  • Stuporöse Zustände
  • Auffällige Wechsel im Verhalten und
  • Andere non-verbale Auffälligkeiten aus der Interviewsituation

Diagnostische Kriterien für die dissoziative Identitätsstörung nach DSM-IV

Das Diagnostische und Statistische Manual zählt die folgenden diagnostischen Kriterien für die dissoziative Identitätsstörung auf:

  • Die Anwesenheit von zwei oder mehr unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen.
  • Mindestens zwei dieser Identitäten oder Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die Kontrolle über das Verhalten der Person.
  • Eine Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern. Diese sind zu umfassend, um sie als Vergesslichkeit deuten zu können.
  • Die Störung steht in keinem Zusammenhang mit der Wirkung einer Substanz (Blackouts oder ungeordnetes Verhalten während einer Alkoholintoxikation).

Beachte: Bei Kindern sind die Symptome nicht durch imaginierte Spielkameraden oder andere Phantasiespiele zu erklären.

Forschungsdiskurs zur Definition und Kriterien der Störung

Von dieser Kriterien-geleiteten Klassifikation unterscheidet sich die Darstellung der Erkrankung im ICD-10 unter F44.81 leider eklatant.

Darin existiert eine Sammlung von Beschreibungen und Annahmen, die sich nur zum Teil mit den Angaben des DSM-IV deckt.

Daher diskutierten Experten in den letzten Jahren über die diagnostischen Kriterien nach DSM-IV für die dissoziative Identitätsstörung.

Dell (2009) deutet an, dass das Fehlen konkreter klinischer Symptome den Nutzen für den nicht spezialisierten Kliniker stark reduziert. Eine Zusammenstellung von häufig auftretenden dissoziativen Symptomen würde das typische Erscheinungsbild von DIS-Patienten besser erfassen.

Andere behaupten, die aktuellen Kriterien seien ausreichend. Wieder andere schlagen vor, dissoziative Störungen zu den Traumafolgestörungen zu zählen.

Behandlung und Heilungsaussichten

Die Behandlung einer dissoziativen Identitätsstörung erfolgt psychotherapeutisch. Zunächst erfolgt der Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung, die auf Sicherheit, Sinnhaftigkeit und Wertschätzung beruht.

Ziele sind:

  • Förderung von Affektdifferenzierung und –regulation
  • Entwicklung von Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit und Selbstkontrolle

Daraus ergibt sich eine Langzeitpsychotherapie, die das ursprüngliche Trauma lösen und ein einheitliches Selbst herstellen soll.

Psychotherapie bei dissoziativer IdentitätsstörungBei der dissoziativen Identitätsstörung ist in der Regel die Psychotherapie die erste Wahl @ Photographee.eu /AdobeStock

Die aktualisierten Behandlungsleitlinien der ISSTD  empfehlen einen eklektischen Behandlungsansatz, der psychodynamische, kognitiv-behaviourale, hypnotherapeutische und traumaadaptierte Vorgehensweisen umfasst.

Ein phasenorientiertes Vorgehen, das zuerst auf Sicherheit und Stabilität des Patienten abzielt, hat sich bei Traumafolgestörungen bewährt.

Im Anschluss geht es gezielt um die Bearbeitung des traumatischen Materials. Darüber hinaus kommen störungsspezifische Techniken zur Anwendung, die darauf abzielen, die dissoziierten Selbstzustände aktiv in die Therapie einzubeziehen. So kann der Integrationsprozess zur Entwicklung eines kohärenten Selbst erfolgen.

Langzeitpsychotherapie zur Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung

Als Therapie der Wahl gilt eine individuelle ambulante Langzeitpsychotherapie mit bis zu zwei Stunden pro Woche über mehrere Jahre.

Auch kombinierte Therapieangebote von ambulanter und stationärer Intervalltherapie haben sich ebenfalls klinisch bewährt.

Es liegen auch positive Erfahrungswerte zu strukturierten Gruppenangeboten in Kombination mit individuellen Einzeltherapien vor. Dies stellt eine effizientere und ökonomischere Alternative zur Einzel- Langzeitpsychotherapie dar.

Medikamentöse Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung

Medikamente spielen in der Therapie der dissoziativen Identitätsstörung nur bei der Behandlung von Begleitstörungen eine Rolle.

Beim Auftreten komorbider Störungen gilt es, diese nach den entsprechenden Leitlinien störungsspezifisch zu behandeln. Dies gilt auch für die medikamentöse Behandlung.

So kommen beispielsweise bei depressiven Symptomen Antidepressiva je nach  Schwere zum Einsatz.

Die Symptomatik der dissoziativen Identitätsstörung ist bisher nicht mit Medikamenten zu behandeln. Probatorisch setzen Ärzte gelegentlich Naloxon ein, um dissoziative Symptome zu durchbrechen. Jedoch ohne anhaltenden Erfolg.

Quellen

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