Das Vestibularisschwannom - der Tumor am Hörnerv: Experteninterview mit Prof. Dr. med. Amir Samii

03.07.2023

Und plötzlich pfeift, zischt, piept und rauscht es im Ohr. Man findet nur noch schlecht in den Schlaf, weil Ohrgeräusche im Kopf dominieren. Kopfschmerzen kommen oftmals hinzu, und so mancher Betroffener reagiert auch mit ausgeprägtem Tinnitus, Schwindel und Übelkeit. Die Ursache des Dilemmas ist das sogenannte Vestibularisschwannom, ursprünglich Akustikusneurinom genannt, ein (meist) gutartiger Tumor im inneren Gehörgang am Austritt des Gleichgewichtsnervs, der in den Gehirnraum geht. Die eher seltene Tumorerkrankung kommt am häufigsten bei Menschen zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr vor. Betrachtet man die Erkrankungsrate statistisch, so erkranken von 100.000 Personen jährlich nur 1-1,5 Personen neu an einem Vestibularisschwannom. Für die Diagnose und Behandlung ist eine hohe medizinische Expertise erforderlich, da vor allem bei einer möglichen chirurgischen Behandlung größte Präzision und Geschick notwendig sind. Die Redaktion des Leading Medicine Guide hatte die Gelegenheit mit einem der international führenden Spezialisten für Vestibularisschwannome, Professor Dr. med. Amir Samii aus dem International Neuroscience Institute® (INI) Hannover GmbH, zu sprechen, um Details zu dieser für viele unbekannten Tumorerkrankung zu erfahren.

Prof. Dr. med. Amir Samii

Der Tumor selbst bildet sich aus den sogenannten Schwann´schen Zellen heraus, die im Gehirn die Hirnnerven nach außen isolieren, wodurch eine Informationsübermittlung zwischen den einzelnen Nervenzellen beschleunigt wird. Bei einem Menschen mit Vestibularisschwannom wachsen diese Zellen unkontrolliert und schnell und hüllen sich dabei mit einer Kapsel aus Bindegewebe ein, wodurch sie sich von umliegendem Gewebe absondern. Warum es zu solchen Gewebewucherungen kommt, ist bis heute ungeklärt. Die Nutzung von Mobilgeräten als mögliche Ursache wird mittlerweile ausgeschlossen. Von einem Vestibularisschwannom spricht man deshalb, weil die Wucherung vom Gleichgewichtsnerv (dem Nervus vestibularis) ausgeht. Vom diesem werden Informationen aus dem Innenohr an das Gehirn weitergeleitet. Viele Patienten bekommen eine lange Zeit nicht mit, dass etwas im Kopf wächst, was da nicht hingehört. Sobald sich aber die ersten Symptome wie auffällige Ohrgeräusche oder Hörverlust bemerkbar machen, erfolgt der Gang zunächst zum Hals-Nasen-Ohren Arzt.


Der Nervus vestibularis bildet zusammen mit dem Nervus acusticus (cochlearis) den VIII. Hirnnerv, den Nervus vestibulocochearis. Dieser ist der Hör- und Gleichgewichtsnerv und verläuft aus dem Innenohr durch den inneren Gehörgang und den Kleinbrückenwinkel in den Hirnstamm. Die Myelinschicht der Hirnnerven besteht aus Bindegewebszellen, den Schwann-Zellen, aus denen Vestibularisschwannome entstehen, und zwar dann, wenn es zu einem genetisch oder sporadisch bedingten Verlust eines Tumorsuppressorgens kommt (dies sind Gene, deren Produkte eine unkontrollierte Teilung genomisch geschädigter Zellen unterdrücken und die Entstehung von Tumoren verhindern können).


Für eine Diagnose wird der äußere Gehörgang und das Trommelfell des Patienten angesehen. Es erfolgt zudem ein Hörtest mittels einer Ton-, Sprach- und Hirnstamm-Audiometrie (BERA Untersuchung), um die Funktionsfähigkeit der Hörnerven zu überprüfen sowie eine Kontrolle des Gleichgewichtssinns. Eine Magnetresonanztomografie mit Kontrastmittel gibt am Ende Aufschluss darüber, wie fortgeschritten der Tumor ist und wo er genau liegt.


Der gutartige Tumor ist an folgenden Symptomen zu erkennen:

  • Schallempfindungsschwerhörigkeit
  • Hörsturz
  • Tinnitus
  • Schwindel
  • Übelkeit und Erbrechen
  • Kopfschmerzen
  • Lähmung des Gesichtsnervs (Nervus facialis)
  • Empfindungsstörungen im Gesicht
  • Steifer Nacken
  • Gestörtes Sehvermögen (Doppelbilder)

Bei der Diagnose eines Vestibularisschwannoms gibt es drei Möglichkeiten der Behandlung: Warten unter Beobachtung, Bestrahlung und Operation. 

Bei der Entscheidung, was für eine Art der Therapie am meisten Sinn macht, spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Es kommt zum Beispiel darauf an, wo genau der Tumor sitzt, wie groß er ist und wie der Wachstumsverlauf ist. Auch die individuelle Krankengeschichte des Patienten und dessen persönliche Präferenz sollten berücksichtigt werden. Es gibt grundsätzlich drei Möglichkeiten der Behandlung: 

  1. Der Tumor wird beobachtet, und man wartet, um festzustellen, ob der Tumor weiterwächst (nennt sich „wait and scan“, also „warten und scannen“) und ob eine sofortige Behandlung notwendig ist. 
  2. Der Tumor wird bestrahlt.
  3. Der Tumor wird operativ entfernt.

Beurteilung und Klassifizierung der Tumorgröße

I. Kleiner intrakanalikulärer Tumor, der sich lediglich im inneren Gehörgang (Meatusacusticus internus) befindet. < 10 mm. Alle drei Behandlungsmöglichkeiten sind denkbar. Das Tumorwachstum wird mit regelmäßigen MRIs und Hörtests kontrolliert. Verschlechtert sich das Gehör, oder der Tumor wächst plötzlich sehr auffällig, können eine radiochirurgische oder eine mikrochirurgische Behandlung in Betracht gezogen werden.

II. Hauptsächlich intrakanalikulärer Tumor mit Protrusion (Vorschieben) in den Kleinhirnbrückenwinkel, aber ohne Kontakt zum Hirnstamm. < 20 mm. Auch hier sind alle drei Behandlungsoptionen möglich. 

III. Hauptsächlich im Kleinhirnbrückenwinkel lokalisierter Tumor mit Kontakt zum Hirnstamm, aber ohne Kompression. < 30 mm. Eine mikrochirurgische Entfernung ist anzustreben.

IV. Großer Tumor mit Kompression des Hirnstamms und der umgebenden Hirnnerven. > 30 mm. Eine neurochirurgische Resektion ist dringend empfohlen.


Weltweit nehmen die operativen Eingriffe ab. Das Verfahren des ‚wait and scan‛ ist sehr populär. Hier muss berücksichtigt werden, dass die Tumore jeweils völlig unterschiedlich sind. Bei manchen Patienten bleibt der Tumor bis zu einem Jahrzehnt unverändert stabil, und das Gehör ist nicht beeinträchtigt. Bei dem anderen Patienten kann ein Tumor bis zu 3mm im Jahr wachsen. Die Wachstumsgeschwindigkeit liegt in der Genetik des Tumors“, beginnt Professor Dr. Samii in unserem Gespräch. „Bei einigen Patienten wird etwa nach einem Hörsturz ein Vestibularisschwannom als Zufallsbefund überhaupt entdeckt. Die Option einer stereotaktischen und ambulanten Bestrahlung des Tumors mit dem sogenannten Gamma Knife hat dann zum Ziel, das Wachstum zu stoppen“, erläutert Professor Dr. Samii.


Das Gamma-Knife arbeitet mit einer natürlicher Gamma-Strahlung aus 201 kleinen Kobalt 60-Strahlungsquellen. Hierfür ist ein Strahlenführungssystem, das aus 201 Strahlenkanälen besteht, in einen Stahlblock gefräst. Mit einer Präzision im Zehntel-Millimeter-Bereich treffen die Strahlen in einem zuvor berechneten Punkt den Tumor.


Zu berücksichtigen ist, dass jeder Patient vollkommen anders auf die getroffene Diagnose reagiert. „Der eine Patient erklärt, dass er nicht damit leben kann, etwas im Kopf zu haben, was da nicht hingehört, und der andere Patient will auf Biegen und Brechen jede Form eines Eingriffs vermeiden“, schildert Professor Dr. Samii die verschiedenen Patientenreaktionen. „Grundsätzlich ist aber festzuhalten, dass eine chirurgische Entfernung eines Tumors Sinn macht, da der Patient dann geheilt ist. Denn der Verlauf ist nun einmal so, dass beinahe jeder Patient mit einem Vestibularisschwannom über kurz oder lang sein Gehör auf der betroffenen Seite verlieren wird, wenn der Patient sich grundsätzlich gegen eine Operation entscheidet. Natürlich besteht die Gefahr, dass das Gehör während der Operation dauerhaft geschädigt wird und der Patient einen Gehörverlust erleidet, aber man hat in Abhängigkeit von der Größe des Tumors und der präoperativen Hörqualität zumindest bei optimalen Bedingungen eine hohe Wahrscheinlichkeit und die Chance, dass es erhalten bleibt. Bei einer Strahlentherapie zeigen die Langzeitergebnisse, dass ein schrittweiser Hörverlust entsteht“, stellt Professor Dr. Samii klar. Auch neurologische Spätfolgen können durch eine Bestrahlungstherapie entstehen, sind aber selten.


Wenn der Tumor unkontrolliert weiterwächst, kann es im Zweifelsfall zu einer Kompression des Hirnstamms kommen, die der Patient in Form von Koordinationsstörungen bemerkt. Im schlimmsten Fall kann es auch zu einer Hirnwasserzirkulationsbeeinträchtigung (Liquorzirkulationsstörung) kommen – dann kann ein Vestibularisschwannom lebensbedrohlich werden.


Der mikrochirurgische Eingriff.

Die Vorstellung, dass ein chirurgischer Eingriff am Kopf vorgenommen wird, ist keine schöne – schließlich wird hierbei ein Loch in den Kopf gebohrt. Wir erläutern einmal, wie der Ablauf ist, um mögliche Ängste zu mildern. „Das Loch, dass in den Kopf des Patienten mit einem Diamantbohrer gefräst wird, um den Tumor entfernen zu können, ist ungefähr so groß wie eine zwei Euro Münze. Angesetzt wird in der Regel hinter dem Ohr, direkt an der Haargrenze zwischen Felsenbein und Kleinhirn. Um die Öffnung klein zu halten, wird der Knochen Schritt für Schritt entfernt. Die Öffnung wird nach dem Eingriff anschließend mit Knochenzement wieder verschlossen, ähnlich wie in der Zahnchirurgie. Der Zement dehnt sich beim Einsetzen in die Öffnung ein wenig aus, sodass alles wieder komplett dicht ist“, beschreibt Professor Dr. Samii den Ablauf der Schädelöffnung und -schließung.

Große Sorge haben Patienten meist vor der Verletzung des Gesichtsnervs (Nervus facialis) während der Operation, der eine Gesichtslähmung zu Folge haben kann. „Ein erfahrener Chirurg führt diese Operation durch, ohne eine Nervenzerstörung zu riskieren. Extrem hilfreich ist das begleitende Neuromonitoring, wobei zu jeder Sekunde die Nervenreaktion des Patienten während der Operation überprüft wird und der operierende Arzt laufend aktuelle Informationen erhält, unterdessen der Tumor immer weiter von innen ausgehöhlt wird, um dann die Tumorstruktur zu zerstören“, erläutert Professor Dr. Samii zuversichtlich. Bei kleinen und mittelgroßen Tumoren kann im INI in Hannover, dem Zentrum für Schädelbasischirurgie und Referenzzentrum für Neurochirurgie, der Facialisnerv bei kleinen Tumoren beinahe zu 100%, bei großen bis zu ca. 90% erhalten werden. 


Das Risiko einer möglichen und in der Regel nur vorübergehenden Gesichtslähmung wiegt viel schwerer als wenn der Rest eines Tumors im Kopf des Patienten verbleibt.


Lediglich eine vorübergehende Irritation des Gesichtsnervs ist möglich. „Selten belassen wir ein Stück der Tumorkapsel an Ort und Stelle, dann aber, wenn dieses direkt an den Gesichtsnerven klebt und der Nerv so fragil und empfindlich ist, dass das Risiko einer Verletzung zu groß erscheint. Der Verbleib des Tumorrestes kann dann wiederum regelmäßig kontrolliert werden, um das Wachstum erneut zu beobachten und zu entscheiden, ob zu einem weiteren Zeitpunkt eine Bestrahlung oder eine zweite Operation erforderlich ist oder nicht", führt Professor Dr. Samii zum Erhalt des Facialisnervs abschließend aus.

Der Aufwand im Operationssaal ist hoch.

Bei der chirurgischen Entfernung eines Vestibularisschwannoms sind im INI Hannover sieben Personen involviert – vom Chirurgen über Assistenzärzte, dem Anästhesisten bis hin zur Instrumentenschwester. Als Zeitraum kann man von insgesamt 4-6 Stunden ausgehen, wobei das Öffnen der Schädeldecke alleine 30-60 Minuten dauern kann. Der Kopf des in halbsitzender Liegeposition befindenden Patienten liegt dann während der gesamten Operation vor einem Operationsmikroskop. „Bei uns im INI verbleibt der Patient nach der Operation 5-7 Tage im Krankenhaus, und es wird eine anschließende Schonzeit von ca. vier Wochen empfohlen, bevor man wieder am ganz normalen Alltag teilnehmen kann“, so Professor Dr. Samii. Mit kleineren Nebenwirkungen wie leichtem Schwindel, Schmerzen an der Narbe oder Kopfschmerzen darf gerechnet werden, die aber wieder abklingen. Auch leichte Gleichgewichtsstörungen sind anfänglich möglich. „Es erfolgt dann natürlich eine Kontrolle des Patienten, die nach Ablauf eines Jahres wiederholt wird“, erklärt Professor Dr. Samii, der mittlerweile über 1000 Operationen in der Hirnregion durchgeführt hat, ob Vestibularisschwannome, Epidermoide (Missbildungstumore entlang der Schädeldecke) oder Meningeome (Hirnhauttumore). Was das Vestibularisschwannom betrifft, so kommen jährlich 50-100 Fälle zur Behandlung ins INI Hannover.

Wer bezahlt das alles?

Privatpatienten erhalten selbstverständlich eine 100%ige Erstattung aller Kosten, wenn sie sich im INI Hannover von Professor Dr. Samii als international angesehenen Facharzt operieren lassen möchten. Professor Dr. Samii gibt hierzu noch einen wertvollen Hinweis: „Wir haben einen Rahmenvertrag mit der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover (KKH), sodass auch gesetzlich Versicherte hierüber die Möglichkeit auf eine Operation im INI haben. Bei allen anderen Krankenkassen besteht die Option, einen Einzelfallantrag zu stellen, sodass dann bei Zustimmung der Kasse zum Kassentarif (Fallpauschale) operiert wird“. Im INI werden pro Jahr insgesamt über 200 Kassenpatienten operiert.

Zukunftsvisionen.

Mit Blick in Zukunft wünscht sich Professor Dr. Samii eine höhere Prädiktion. „Es wäre so hilfreich, wenn wir noch präziser eine Prognose zum Tumorwachstum abgeben könnten und mehr Informationen durch genetische Sequenzierung hätten. Auch an besseren Optionen zu noch besserem Hörerhalt wird gearbeitet. Hierfür ist ein noch feineres Monitoring nötig, um den Erhalt aller Funktionen zu optimieren. In jedem Fall steht die Lebensqualität des Patienten immer im Vordergrund“, betont Professor Dr. Samii, der sich stets persönlich und individuell um seine Patienten kümmert, und schließt damit unser Gespräch.

Professor Dr. Samii, vielen Dank für den Einblick in diese doch eher unbekannte und wichtige Thematik!

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