Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) - Experteninterview mit Dr. med. Kügelgen

15.12.2023

Dr. Bernhard Kügelgen, ein renommierter Experte im Bereich der Schmerzmedizin und Schmerztherapie, steht im Mittelpunkt der hochspezialisierten Einrichtungen des Therapiezentrums Koblenz und des MVZ Koblenz. Gemeinsam mit seiner Frau, der Physiotherapeutin Cecilija Kügelgen, leitet er diese beiden medizinischen Institutionen in enger Kooperation. Ihre Schwerpunkte liegen in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, neuropathischen Schmerzen und neurologischen Erkrankungen, darunter Schlaganfall-Folgen, Demenz und Parkinson.

Das Therapiezentrum Koblenz und das MVZ Koblenz bieten Patienten mit Schmerzerkrankungen ein umfassendes und nahtloses Behandlungsangebot, das ambulante Krankenversorgung und teilstationäre Rehabilitation kombiniert. Als Regionales Schmerzzentrum der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. (DGS) bietet das MVZ Koblenz in fünf Praxen eine breite Palette an schmerztherapeutischen Leistungen. Dr. Kügelgen leitet ein multiprofessionelles Team aus fünfzig Mitarbeitern, das sich auf die medizinisch-therapeutische Versorgung von Schmerzpatienten spezialisiert hat.

Die Schmerztherapie zielt darauf ab, die Eigenkompetenz der Patienten zu fördern und ganzheitliche Behandlungsansätze zu entwickeln. Sie zeigt einen Weg zu einem möglichst selbstbestimmten und als sinnstiftend empfundenen Leben auf. Die Schmerzerkrankungen, die in den Einrichtungen von Dr. Kügelgen vorrangig behandelt werden, umfassen Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, chronifiziertes Schleudertrauma, neuropathische Schmerzen sowie posttraumatische Schmerzen, darunter das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS), auch als Morbus Sudeck bekannt. Zu Letzterem Thema hat die Redaktion des Leading Medicine Guide die Gelegenheit genutzt und mit Dr. Kügelgen gesprochen.

Dr. Kügelgen Profilbild LMG

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS = Complex Regional Pain Syndrome), früher als Morbus Sudeck oder Reflexdystrophie bekannt, ist ein schmerzhaftes Syndrom, das in der Regel in einer Extremität, auftritt. Zu den Hauptmerkmalen gehören Schmerzen, die oft anhaltend und intensiv sind, häufig aber nicht im Verhältnis zur ursprünglichen Verletzung oder Erkrankung stehen. Diese Schmerzen können brennend, stechend oder pulsierend sein. Die Haut im betroffenen Bereich kann sich verändern und Symptome wie Rötung, Schwellung oder Verfärbung aufweisen. Die Haut kann auch überempfindlich auf Berührungen oder Temperaturveränderungen reagieren. CRPS kann die Bewegungsfreiheit der betroffenen Extremität erheblich einschränken, wodurch sie steif und schwer zu kontrollieren wird. Temperaturveränderungen sind ein weiteres Symptom, bei dem die betroffene Stelle sich ungewöhnlich warm oder kalt anfühlen kann, oft mit Schwankungen zwischen Überwärmung und Unterkühlung. Ödeme oder Schwellungen können die betroffene Extremität dicker erscheinen lassen. Bei einigen Menschen verlangsamt oder verändert sich das Haar- und Nagelwachstum. In schweren Fällen kann Muskelrückbildung auftreten, da die betroffene Extremität weniger verwendet wird.

Die Schmerztherapie ist insgesamt ein Problem. Denn man hat sich früher nur mit dem akuten Schmerz auseinandergesetzt. Das Thema CPRS ist aber ein anderes. Wenn ich zum Beispiel zum Zahnarzt gehe, dann mache ich mir keine Gedanken darüber, was in drei Wochen sein wird. Denn Schmerzen lassen sich hier weitestgehend durch eine Betäubung vermeiden. Bei chronischen Schmerzen aber ist die Ursachenfindung schwieriger. Der Patient stellt natürlich Erwartungen an den Arzt und möchte die Schmerzen loswerden. Im Moment könnte man dem Patienten helfen, indem man den Schmerz einfach betäubt. Was aber ist morgen? Natürlich will jeder Mensch weniger Schmerzen haben, beim chronischen Schmerzpatienten steht aber dahinter die Frage, wie das Leben weitergeht, in der Rehabilitation spricht man von Teilhabe. Er ist aus dem normalen Leben geworfen und findet nicht zurück. Übergeordnetes Ziel ist also ein Wiedergewinn an Teilhabe, d. h. die Rückkehr in ein möglichst weitgehend selbstbestimmtes, als sinnstiftend empfundenes Leben. Hierbei sind starke Schmerzmittel nicht nur wenig hilfreich, sondern häufig ein zusätzliches Hindernis. Daher erweist sich eine Betäubung des Schmerzes in der Regel als wenig zielführend. In der Realität aber werden vielen Patienten starke Schmerzmittel verabreicht. Fentanyl zum Beispiel ist um ein Vielfaches stärker als Heroin. Meist hat ein Patient zuvor bereits eine ganze Riege an Medikamenten zu sich genommen, die dann aber nicht wirken, da sich der Körper an die Betäubung gewöhnt hat (Toleranzentwicklung). Und so stellt sich der Wunsch nach immer mehr und nach immer stärkeren Medikamenten ein, um den Schmerz aushalten zu können. Diese Toleranzentwicklung, die sich nach 2-3 Monaten besonders bei Opioiden einstellt, ist fatal, und am Ende kommen die Schmerzen doch zurück“, stellt Dr. Kügelgen zu Beginn unseres Gesprächs fest.

Die Diagnose und Behandlung erfordern eine multidisziplinäre Herangehensweise, bei der Schmerzmediziner, Neurologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Psychologen zusammenarbeiten. Frühzeitige Interventionen und die Vermeidung von Inaktivität sind entscheidend, um die Symptome zu lindern und die Funktion der betroffenen Extremität zu erhalten. „Warum Menschen an CRPS leiden, ist noch immer nicht vollständig geklärt. Bei 60% der Betroffenen lässt sich keine konkrete Ursache ermitteln. Die internationale Literatur zu diesem Thema nennt Unfälle und Operationen als ursächlich, letztlich ist diese Frage bisher vollkommen unklar gewesen“, konstatiert Dr. Kügelgen. 

Eine wichtige Erkenntnis aus der Erfahrung ist, dass die längere Ruhigstellung einer Extremität, oft bereits für einen Zeitraum von etwa drei Wochen, eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von CRPS spielt. „Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz. Hier waren viele Geschädigte aus dem Krieg in Afghanistan untergebracht. Auch Kriegsversehrte aus Syrien und Afrika wurden in diesem Krankenhaus aufgenommen. Das Kuriose ist, dass bei diesen Menschen ein CRPS praktisch nicht vorkommt, was unterstreicht, dass ein Mindergebrauch die Ursache von CRPS ist. Denn auf einem Kriegsschauplatz kann man sich nicht schonen – man muss weitermachen, um sich zu schützen und hat grundsätzlich keine Ruhe“, veranschaulicht Dr. Kügelgen die Ursächlichkeit von CRPS. 

Unabhängig von der ursprünglichen traumatischen Verletzung oder einer Operation, hat eine Ruhigstellung nachweislich negative Auswirkungen. Das menschliche Gehirn ist äußerst lernfähig, insbesondere im Hinblick auf motorische Fähigkeiten. Dies führt dazu, dass bei längerer Immobilisierung einer Extremität verschiedene ungünstige Lernprozesse im Gehirn in Gang gesetzt werden. Dazu gehören vegetative Umstellungen, Schmerzen, sowie motorische und sensible Veränderungen. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung der frühen Mobilisierung und Rehabilitation nach Verletzungen oder Operationen, um das Risiko der Entwicklung von CRPS zu minimieren. 

In den 70er Jahren fing es damit an, eine verordnete Bettruhe von Patienten zu verkürzen, um einen Gesundungsprozess zu beschleunigen. Weltraumfahrer zum Beispiel hatten alle nach 3-4 Tagen im All starke Rückenschmerzen, was einfach damit zusammenhing, dass sie sich mehrere Tage lang nicht bewegen konnten. Heute ist das Problem gelöst, weil die Dauer des Stillsitzens verkürzt wurde. Auch bei Schlaganfall Patienten wurde etwas verändert. Denn getreu nach dem bis heutige gültigen `Bobath-Prinzip´ muss der Patient sich mit der kranken Seite auseinandersetzen. Die gesunde Seite gehört im Bett sozusagen an die Wand, um den Mindergebrauch der kranken Seite zu vermeiden. Wir konnten im Therapiezentrum Koblenz in über 1000 Fällen feststellen und herausarbeiten, dass CRPS nur durch Mobilität zu vermeiden ist. Also muss mit der kranken Hand die Türklinke geöffnet werden, nicht mit der gesunden, um das noch einmal zu verdeutlichen, sonst wird dem Patienten der Gebrauch der Hand fremd “, erklärt Dr. Kügelgen.


Im Jahr 1943 entwickelten Berta Bobath, eine Physiotherapeutin, und ihr Mann, Dr. Karl Bobath, das Bobath-Konzept. Dieser Therapieansatz zielt speziell auf Menschen mit Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems ab. Es versteht sich jedoch nicht als eine festgelegte Methode oder Technik, sondern vielmehr als einen problemlösenden Ansatz. Ziel der Bobath-Behandlung ist die alltagsintegrierte Zusammenarbeit zwischen den Betroffenen und den Therapeuten zur Verbesserung motorischer Einschränkungen, Spastizität und Gleichgewichtsstörungen. Das Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass das Nervensystem die Fähigkeit zur lebenslangen Anpassung und zum Lernen besitzt. Wenn bestimmte Hirnareale geschädigt sind, bedeutet das nicht zwangsläufig den Verlust ihrer Funktionen. Stattdessen können intakte Hirnregionen trainiert werden, um diese Aufgaben zu übernehmen.


CRPS ist eine komplexe Erkrankung, und die Diagnose kann anspruchsvoll sein. 

CRPS ist eine lebensverändernde Krankheit. Durch die anhaltenden Schmerzen haben Patienten auch oft Schlafstörungen, erleiden Nebenwirkungen durch verabreichte Medikamente und nehmen schlussendlich nicht mehr richtig am Leben teil. Sie erleben häufig Gefühle der Frustration, Verzweiflung und Angst aufgrund der Schmerzen und der Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der Erkrankung. Die chronische Schmerzerfahrung kann zu Depressionen führen, da die ständige Beeinträchtigung der Lebensqualität die Stimmung negativ beeinflusst. Die Einschränkungen der Beweglichkeit, die viele CRPS-Patienten erleben, können zu sozialer Isolation führen. Die Schwierigkeiten, alltägliche Aufgaben zu bewältigen, können zu einem Verlust an Selbstständigkeit und Unabhängigkeit führen. Dies kann die Patienten entmutigen und das Risiko von sozialer Isolation und Depression erhöhen. Die Schmerzen und das Ausmaß der Erkrankung können auch die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Viele Menschen mit CRPS sind nicht in der Lage, ihren Beruf auszuüben oder müssen kürzertreten, was finanzielle Belastungen und Stress verursacht“, kommentiert Dr. Kügelgen das Ausmaß der Erkrankung. 

Um CRPS von anderen Schmerzsyndromen zu unterscheiden, werden verschiedene diagnostische Verfahren und klinische Kriterien herangezogen. Der Arzt wird eine ausführliche Anamnese aufnehmen und den Patienten auf Symptome und Risikofaktoren hin befragen. Die körperliche Untersuchung fokussiert das betroffene Körperteil, um Veränderungen an Haut, Muskulatur, Beweglichkeit und Empfindung festzustellen. Dies können sogenannte vegetative Veränderungen sein. Das sind Schwellung, vermehrtes Schwitzen, Verfärbung, Temperaturunterschied zur gesunden Seite, verändertes Haar- und / oder Nagelwachstum. 

Wichtig ist das Vorgehen nach den sogenannten Budapest-Kriterien, die ein wichtiger diagnostischer Leitfaden für CRPS sind und 2003 von der Weltschmerzgesellschaft herausgegeben und 2010 modifiziert wurden. Sie sind bis heute Standard und umfassen vier Punkte“, erläutert Dr. Kügelgen und zählt auf:

1) Anhaltender, unverhältnismäßiger Schmerz.

2) 3 von 4 der folgenden Kriterien müssen aus der Beschwerdeschilderung des Patienten bei der Anamnese hervorgehen 

Die vier zu prüfenden Kriterien sind:

  1. Schwellung, vermehrtes Schwitzen
  2. Verfärbung, Temperaturunterschied
  3. Veränderte Sensibilität (Pelzigkeit, auch Überempfindlichkeit)
  4. Veränderte Motorik (eingeschränkte aktive und passive Beweglichkeit, Haar- und Nagelwachstum)

3) 2 von 4 der oben genannten Kriterien muss der Arzt bei seiner Untersuchung finden.

4) Es darf keine andere Erkrankung wahrscheinlicher sein.

Mit dem Abprüfen der gleichen Kriterien einmal durch den Patienten und dann durch den Arzt wird der Erkenntnis Rechnung getragen, dass diese Veränderungen nicht immer gleich sind. Sie können durch Überanstrengung zunehmen oder sich durch geeignete physio- und / oder ergotherapeutische Behandlung und mäßige Aktivität bessern. 

Die Vorgeschichte des Patienten muss unbedingt in die Diagnose einbezogen werden. Oftmals ist es auch so, dass die Diagnose bei den CRPS-Patienten gar nicht von Ärzten gestellt wird, sondern etwa von dem behandelnden Ergotherapeuten, da diese den Patienten öfter sehen als der Arzt“, ergänzt Dr. Kügelgen den Verlauf einer Diagnose.


Die Diagnose von CRPS erfordert in der Regel das Ausschließen anderer möglicher Ursachen für die Symptome. Da die Erkrankung vielfältige Symptome und Ursachen haben kann, ist eine umfassende Evaluation und Zusammenarbeit zwischen verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen erforderlich.


Die Behandlungsmöglichkeiten für CRPS erfordern eine ganzheitliche Herangehensweise. 

Die primären Ziele der Therapie sind die Linderung von Schmerzen, die Wiederherstellung der Funktion der betroffenen Extremität und die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten. „Physiotherapie und Ergotherapie spielen eine entscheidende Rolle in der Rehabilitation von CRPS-Patienten. `Forced use´ ist der zielführende Weg. Dies ist am Anfang für den Patienten zwar auch schmerzhaft, aber frequente, kleine Wiederholungen von Übungen am Tag helfen. CRPS kann vollständig ausheilen, wenn man den therapeutischen Korridor berücksichtigt, d. h., dass der Patient sich hinsichtlich seiner Aktivität und Belastung weder unter- noch überfordert. Hierzu braucht er immer wieder anzupassende Vorgaben der Therapeuten, was er sich zumuten und abverlangen darf und welche Grenzen er einhalten muss. Bei manchen Menschen braucht es 6-12 Wochen, um wieder fit zu werden. Natürlich muss auch immer berücksichtigt werden, was für den Einzelnen `fit´ heißt. So brauchen Menschen, die etwa bei der Stadtreinigung arbeiten und schwere körperliche Arbeiten ausführen, länger bis sie wieder voll leistungsfähig sind“, so Dr. Kügelgen.

Die Prävention von CRPS nach einer Verletzung oder Operation ist von großer Bedeutung, da die Erkrankung oft schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensqualität hat. 

Eine der Schlüsselpräventivmaßnahmen besteht darin, die Mobilisierung und den Gebrauch der betroffenen Extremität so früh wie möglich nach einer Verletzung oder Operation zu fördern. Eine längere Ruhigstellung einer Extremität kann das Risiko für die Entwicklung von CRPS erhöhen. Daher ist eine rasche Wiederaufnahme von Aktivität unter Anleitung eines medizinischen Fachpersonals wichtig. Bewegung ist alles!“, betont Dr. Kügelgen eindrücklich und schließt damit unser Gespräch.

Sehr geehrter Herr Dr. Kügelgen, vielen Dank für den Einblick in diese so unterschätzte Erkrankung!

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