„Kinder sind keine kleinen Erwachsenen!“ Die renommierte Kinderneurochirurgin Prof. Messing-Jünger im Gespräch

21.04.2022
Claudia Dechamps
Redakteurin

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger besitzt als Chefärztin der Kinderneurochirurgie an der Asklepios Kinderklinik St. Augustin ein internationales Renommee. Die bekannte Spezialistin ist mit dem gesamten Spektrum der neurochirurgisch relevanten Erkrankungen des Gehirns und des Rückenmarks bei Kindern und Jugendlichen vertraut – und hat sich so weltweit einen Ruf als herausragende Ärztin erworben, wenn es um kinderneurochirurgische Erkrankungen geht. Eines ihrer Spezialgebiete ist die Behandlung des Hydrozephalus, umgangssprachlich Wasserkopf genannt. Die Kinderneurochirurgin Prof. Messing-Jünger ist Ärztin mit Leidenschaft und sehr viel Empathie für ihre kleinen Patientinnen und Patienten und deren Familien. Dieses einfühlsame Engagement zeichnet auch das gesamte Team aus, auf das sie sich voll und ganz verlassen kann.

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Leading Medicine Guide: Frau Prof. Messing-Jünger, Sie sind eine international bekannte und anerkannte Neurochirurgin für Kinder – aber in Sankt Augustin doch eher in der Provinz tätig. Wie kommen Ihre Patientinnen und Patienten denn zu Ihnen?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Die kleinen Patientinnen und Patienten finden aus der ganzen Welt zu mir. Die Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin ist eine über viele Grenzen hinweg renommierte Spezialklinik, das spricht sich herum. Und die Kinderneurochirurgen sind eine besondere internationale Community: Da gelte ich als bekannte und anerkannte Spezialistin. Zwei Jahre lang war ich zudem Präsidentin der European Society for Pediatric Neurosurgery (ESPN).

Leading Medicine Guide: Wie sind Sie denn ausgerechnet Neurochirurgin für Kinder geworden?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Für dieses Gebiet gibt es keine spezielle Facharztausbildung. Ich habe zwanzig Jahre in der Allgemeinen Neurochirurgie gearbeitet und an der Universitätsklinik Düsseldorf alle chirurgischen Eingriffe durchgeführt, die in unserem Fachgebiet anfallen. Aber das Kindesalter hat mich immer besonders interessiert und ich fand, dass Kinder einfach schlechter operativ versorgt wurden als die erwachsenen Patienten. Die chirurgischen Fächer sind auf das Erwachsenenalter ausgerichtet. Hier Veränderungen herbeizuführen, das lag und liegt mir sehr am Herzen. Auf den großen neurochirurgischen Kongressen und auch in unserer Fachgesellschaft kämpfe ich immer dafür, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und in einem kind- und familiengerechten Umfeld von Spezialisten behandelt werden.

Leading Medicine Guide: Seit 2007 sind Sie Chefärztin der Kinderneurochirurgie an der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin. Wie kam es zu dem Wechsel von der Uniklinik Düsseldorf zur Asklepios Kinderklinik?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Ich war beruflich an dem Punkt, wo ich etwas Eigenes machen wollte. Ich wurde mehrfach gefragt, eine Klinik zu übernehmen und hatte mich bei zwei, drei großen Häusern beworben – aber so ganz war ich noch nicht davon überzeugt. Ich bin Ärztin mit Leidenschaft und Überzeugung und nicht alles in unserem Gesundheitssystem läuft optimal. Es gibt zudem viele sogenannte „Fehlanreize“ im Rahmen der Krankenhausfinanzierung. Nicht jede Operation ist wirklich indiziert, aber der ökonomische Druck sehr stark. Da muss man gelegentlich Kompromisse machen. In der Kindermedizin ist das anders. Wenn ich schon eine Nische innerhalb der Neurochirurgie ausbauen möchte, dann ist es die Kinderneurochirurgie. Ja, und in diesem Entscheidungsprozess erhielt ich seinerzeit tatsächlich einen initiativen Anruf der Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin. Ich musste nicht nachdenken und habe mich sofort entschieden. Der Businessplan, den ich zur Gründung der Abteilung Kinderneurochirurgie geschrieben hatte, wurde eins zu eins umgesetzt, und mit der Weiterentwicklung hat es auch perfekt funktioniert.

Leading Medicine Guide: Was für ein Glück für zahlreiche kleine Patienten, die in der Kinderneurochirurgie der Asklepios Kinderklinik behandelt werden können. Welche Erkrankungen behandeln Sie am häufigsten?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Die Störungen des Hirnwasserkreislaufs, z. B. Hydrozephalus, sehen wir fast jeden Tag. Kinder mit Fehlbildungen von Rückenmark und Wirbelsäule kommen ebenfalls in großer Zahl zu uns. Zudem behandeln wir alle Arten von Schädeldeformitäten und Hirntumoren. Auch die funktionelle Neurochirurgie gehört zu unserem Leistungsspektrum. Kindern, die an einer spastischen Zerebralparese leiden, kann mit dem Einbau einer Baclofenpumpe oder der gezielten Durchtrennung von Nervenfasern geholfen werden. Bei Epilepsien, die durch Medikamente nicht behandelt werden können, helfen in besonderen Fällen operative Eingriffe, die Anfälle zu stoppen. Gerade sind wir dabei, gemeinsam mit unseren Neuropädiatern ein Epilepsiezentrum aufzubauen. Unsere kleinen Patienten kommen aus ganz Deutschland und der internationalen Welt zu uns, da die interdisziplinäre Versorgung, die bei uns an erster Stelle steht, eine Besonderheit ist.

Messing3.jpgVon CDC – Public domain, Link

Leading Medicine Guide: Die Kinder sind sehr, sehr klein, wenn Sie sie operieren. Bei vielen Krankheitsbildern ist ein Eingriff im Alter von sechs Monaten die medizinische optimale Lösung. Wie macht man das, so kleine Menschen zu operieren?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Man darf keine Angst vor Eingriffen bei kleinen Kindern haben. Natürlich muss man mit winzigen Strukturen umgehen können, aber es gibt auch viele Vorteile aus Sicht des Chirurgen. Es ist zwar risikoreicher, im sich noch entwickelnden Gehirn und an anderen sehr zarten Strukturen zu operieren, aber Kinder haben, im Vergleich zu Erwachsenen, oftmals weniger Begleiterkrankungen, die das Operieren negativ beeinflussen können.

Leading Medicine Guide: Wenn Sie Kinder mit seltenen Krankheitsbildern bekommen, wissen Sie dann immer, was zu tun ist?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Jede Fehlbildung ist in ihrer Ausbildung individuell und variantenreich. Aber wenn man viel Erfahrung hat und das schon so oft gemacht hat, kennt man die Grundlagen und hat Strategien entwickelt, um mit den Varianten umzugehen. Meinen Erfahrungsschatz gebe ich in vielen Ausbildungsveranstaltungen weiter. Wir bieten Hospitationen und ein Fellowship an, machen Kurse, und beraten Kollegen im In- und Ausland. Die gute Ausbildung ist ein schwieriges Feld, denn die jungen Absolventen kann man nicht direkt mit delikaten Operationen bei Kindern konfrontieren.

Leading Medicine Guide: Was muss in einer Kinderklinik alles anders sein?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Oh, das ist eine ganze Menge. Das geht los mit den verschiedenen Bettgrößen, wir haben Betten in vier Größen. Dann brauchen wir verschiedene Tubusgrößen, Kanülen, Spritzen, Implantate – alles muss auf die unterschiedlichen Altersstufen angepasst sein. Und natürlich haben wir hier jegliche Erfahrung mit Medikamenten und Dosierungen. Wie gesagt, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Unsere Anästhesisten müssen speziell geschult sein und ebenfalls viel Erfahrung haben. Ohne ein erfahrenes, interdisziplinäres Team, insbesondere im OP und auf der Intensivstation, kann man unsere neurochirurgischen Operationen bei Kindern aller Altersgruppen nicht guten Gewissens durchführen.

Leading Medicine Guide: Nicht nur das medizinische Setting ist ein anderes, auch die psychologische Seite ist komplexer, oder?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wer in meinem Team arbeitet, muss die Sorgen der Patienten und ihrer Familien sehr ernst nehmen. Ohne diese besondere Empathie wäre man fehl am Platz. Die Gespräche mit den Eltern, die Gespräche mit den Kindern sind viel aufwändiger im Vergleich zur Erwachsenenmedizin. Und ich sage meinem Team immer: Stellt euch bitte vor, Ihr wärt an der Stelle des Vaters oder der Mutter. Ihr hättet sehr große Angst, da müsst Ihr euch hineinversetzen können. Auch unser Pflegepersonal ist anders ausgestattet und zeigt ein sehr großes Engagement. Und was besonders schön ist – alle haben immer gute Laune und verbreiten Optimismus und Zuversicht.

Leading Medicine Guide: Wollen Sie die Eltern denn immer dabei haben?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Doch, das ist uns wichtig und es hat auch einen enormen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Genesung der Kinder. Da hat Gott sei Dank ein Paradigmenwechsel auf den Stationen und bei den Behandlungen stattgefunden. Die Eltern schlafen auch bei den Kindern. Wenn die Kinder auf die Intensivstation müssen, dann kommen die Eltern – und wenn nötig auch die Geschwister – im Ronald McDonald Haus ganz in der Nähe unter. Zusätzlich haben wir ein Team von Seelsorgern und Psychologen, die sich um die Familie kümmern. Das ist gerade in der Onkologie von immenser Bedeutung.

Leading Medicine Guide: Seit einiger Zeit ist die Asklepios Kinderklinik Sankt Augustin in ein schönes, neues Gebäude umgezogen.

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: Damit haben wir großes Glück gehabt. Wir haben das ehemalige Herzzentrum beziehen können und verfügen nun über große Patienten- und Stationszimmer und luxuriöseste Operationssäle. Bis zu 80 000 kleine Patienten werden jedes Jahr ambulant und stationär in unserer Klinik behandelt.

Messing1.jpgDas Akustikusneurinom – eine Gewebewucherung im Gehirn

Leading Medicine Guide: Dabei entstehen sicher lange Arzt-Patienten-Beziehungen?

Prof. Dr. med. Martina Messing-Jünger: In der Neurochirurgie sind das eigentlich lebenslange Beziehungen, denn viele Patienten behandeln wir auch als Erwachsene noch, weil nur wir die Expertise für bestimmte Krankheitsbilder haben. Und unsere Patienten sind sehr treu, zu Weihnachten kommen immer viele, viele Briefe. Neulich traf ich in der Orthopädie eine junge Frau, die ich als kleines Mädchen behandelt hatte. Sie hatte damals eine orthopädische Operation gehabt und wachte aus der Narkose nicht auf. Bei der Bildgebung haben wir dann gesehen, dass sie ein sehr großes Akustikusneurinom im Kopf hatte. Das habe ich ihr dann in einer zehnstündigen Operation entfernt. Ja, und diese junge Frau kam auf mich zu und sagte: Sie haben mir damals das Leben gerettet. Und dann überreichte sie mir ein Buch, sie war inzwischen promovierte Historikerin. Das ist für Sie, sagte sie und schlug das Buch auf: Ich habe es Ihnen gewidmet. Dann weiß man, wofür man diesen anstrengenden Job macht!

Frau Professorin, wir bedanken uns sehr für das informative Gespräch. Direkter Kontakt mit unserer Expertin kann auf ihrer Profilseite des Leading Medicine Guide hergestellt werden.

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