Nahrungsmittelunverträglichkeiten als Volkskrankheit: Professor Dr. med. Sükrettin Güldütuna gehört zu den international bekanntesten Gastroenterologen. Seine Praxisklinik für Gastroenterologie in Frankfurt am Main ist eine der wichtigsten ambulanten Kliniken ihrer Art in Europa: Um den renommierten Spezialisten kümmern sich hier gleich mehrere Fachärzte auf hohem medizinischem Niveau um sämtliche Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts sowie der Leber, der Gallenblase und der Bauchspeicheldrüse. Ein medizinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt von Prof. Güldütuna sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten, die bereits in der Diagnose eine hohe Expertise voraussetzen. Der Leading Medicine Guide sprach mit ihm über dieses spannende Thema.
Leading Medicine Guide: Herr Prof. Güldütuna, hat es Nahrungsmittelunverträglichkeiten nicht schon immer gegeben?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Wahrscheinlich hat es die immer schon gegeben, aber Fakt ist auch, dass diese Unverträglichkeiten heute zunehmen. Immer mehr Menschen klagen über Probleme nach dem Essen. Früher wurden diese Art von Beschwerden – Sodbrennen, Bauchschmerzen, Blähungen, Durchfall – unter dem Stichwort Reizdarm subsummiert. Als eine der Ursachen für den Reizdarm werden Magen-Darm-Infekte diskutiert, die eine fehlgeleitete Immunantwort bewirken, was zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten führen kann. Zur Abklärung aufgrund ihrer diffusen Bauchschmerzen bekamen die Patienten eine Magen- und Darmspiegelung, bei unauffälligem Befund hieß es einfach Reizdarm. Die Patienten erhielten Probiotika, Spasmolytika oder sogar Antidepressiva. Viele Symptome wurden auch einfach als hypochondrisch oder psychosomatisch deklariert.
Leading Medicine Guide: Wann kam die Wende in der Gastroenterologie?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Dazu muss ich vielleicht etwas ausholen und erklären, dass unsere Disziplin seit Jahren dabei ist umzudenken. In der Erforschung des Mikrobioms stecken wir mittendrin und entdecken immer wieder Neues. Das Mikrobiom, die menschliche Darmflora mit Billionen von verschiedenen Bakterien, ist ein eigener Mikrokosmos, ein eigenes Ökosystem, das uns gesund hält. Aber wie das genau geschieht, was da alles abläuft und gestört sein kann – das wissen wir immer noch nicht genau. Wie entscheidend wichtig das Mikrobiom für unsere Lebensprozesse ist, findet die Wissenschaft gerade schrittweise heraus.
Leading Medicine Guide: Eine entscheidende Studie mit sensationellen Ergebnissen in Bezug auf die Nahrungsmittelunverträglichkeiten und den sogenannten Reizdarm fand 2014 statt.
Prof. Dr. med. Güldütuna: Ja, das kann man so sagen. Die Ärztezeitung schrieb damals „Neuer Test sorgt endlich für Ruhe im Bauch“. Die Kieler Gastroenterologin Prof. Dr. Annette Fritscher-Ravens hat mithilfe der Endomikroskopie untersucht, was sich alles im Dünndarm von Reizdarmpatienten abspielt. Das waren schon aufsehenerregende Erkenntnisse. Über das Endoskop leitete sie Lösungen mit den am häufigsten unverträglichen Nahrungsmitteln ein: Kuhmilch, Soja, Hefe und Weizen. Über das Mikroskop wurde dann geschaut, wie die Darmzotten reagieren. Und wirklich – 60 Prozent dieser Reizdarmpatienten zeigten innerhalb weniger Minuten eine erstaunliche Reaktion. Die Zellverbände an den Darmzotten brechen, es entstehen Defekte an den Epithelzellen im Darm, die Darmschleimhaut wird verstärkt durchlässig – die Betroffenen leiden zeitverzögert dann unter Bauchschmerzen und Blähungen. Mit diesen Symptomen war die Medizin konfrontiert, aber den Entstehungsprozess der Beschwerden hatte man bis dahin nicht erkennen können. Mit der Konfokalen Laser-Endomikroskopie haben wir jetzt endlich ein Diagnosetool, das in Echtzeit die Schleimhautreaktionen des Darmes zeigt.
Leading Medicine Guide: Warum ist man mit den bisherigen Diagnosemethoden nicht weitergekommen?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Es wurden Proben entnommen und ans Labor geschickt, aber das ergab keine Befunde. Die Reaktionen an den Darmzotten verlaufen ja schnell und sind kurzfristig, nur die Folgen dauern lange an. Erst mit dem Sichtbarmachen dieser mikroskopisch kleinen Prozesse ist die Medizin ein wichtiges Stück weitergekommen. Weil man bis dato nichts Sichtbares gefunden hatte, mussten die Patienten mit Etiketten wie psychosomatische Ursache oder Hypochondrie leben.
Leading Medicine Guide: Übernehmen die Krankenkassen die Kosten für die Konfokale Laser-Endomikroskopie?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Leider ist diese Untersuchung noch nicht in den Leistungskatalog für gesetzlich Versicherte aufgenommen worden. Wenn die Kasse die Kosten nicht übernimmt, dann muss man sich langsam herantasten: Über einen bestimmten Zeitraum lassen wir einzelne Nahrungsmittel weg und schauen dann jeweils nach den Reaktionen. Es ist ja heute nicht nur der Dünndarm, der allergisch reagiert. Auch die Allergien der Speiseröhre haben stark zugenommen. Ein Erklärungsversuch dafür sind die veränderten Lebensmittel, die enthaltenen Konservierungsstoffe, Farbstoffe etc.
Leading Medicine Guide: Bei welchen Beschwerden wenden Sie die Konfokale Laser-Endomikroskopie an?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Mit der Konfokalen Laser-Endomikroskopie untersuchen wir auch die Speiseröhre bei Patienten, die über Reflux – das sogenannte Sodbrennen – klagen. Bei einem nicht behandelten Reflux verändert sich mit der Zeit die Schleimhaut der Speiseröhre. Die Magensäure und verschiedene Enzyme setzen ihr zu, es entsteht ein Barrett-Ösophagus und der wiederum ist ein Risikofaktor für Speiseröhrenkrebs. Aus den Zellveränderungen, den Dysplasien, in der Schleimhaut der Speiseröhre entsteht der Krebs. Mit der Konfokalen Laser-Endomikroskopie können wir sehr frühzeitig die Dysplasien des Barrett-Ösophagus, das sind die direkten Vorstufen zum Krebs, erkennen, die dann auch endoskopisch ohne Operation abgetragen werden können.
Links: Gesunder Magen. Rechts: Refluxkrankheit, bei der Magensäure in die Speiseröhre fließt © bilderzwerg/AdobeStock
Leading Medicine Guide: Was müssen Barrett-Patienten noch wissen?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Die Endomikroskopie zur Erkennung vor Krebsvorstufen beim Barrett-Ösophagus ist gerade in den USA die häufigste Anwendung der Endomikroskopie. Und wir haben festgestellt, dass wir uns bei Barrett-Patienten auch den Dünndarm anschauen müssen, ob er eine vermehrte Durchlässigkeit aufweist. Denn das wiederum weist – man ahnt es schon – auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit hin. Wenn der Darm aber regelmäßig mit Stoffen belastet wird, die eine Abwehrreaktion hervorrufen, dann kann man sich schon vorstellen, dass die Darmschleimhaut leidet. Das führt zum Leaky Gut Syndrom, so bezeichnet man die geschädigte, durchlässige Darmschleimhaut, die Stoffe in den Blutkreislauf lässt, die da nicht hingehören und dann in vielfältiger Weise krank machen können.
Leading Medicine Guide: Welche Probleme können bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten noch auftreten?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Eine auf Nahrungsmittelallergene zurückzuführende Erkrankung an der Speiseröhre ist die sogenannte eosinophile Ösophagitis. Bei dieser Erkrankung, die gar nicht mal so selten ist, rufen Nahrungsmittel eine sehr ausgeprägte Entzündung an der Speiseröhre hervor, die zu schwerwiegenden Komplikationen wie Verengungen an der Speiseröhre mit Schluckbeschwerden führen kann. Diese durch Nahrungsmittelallergene fehlgeleitete Immunantwort kann vielerlei Erkrankungen auslösen, wie wir das schon bei der Zöliakie kennen, einer bestimmten Art von Nahrungsmittelallergie gegen Gluten. Bei dieser Erkrankung können nicht nur der Darm, sondern auch die Haut, die Leber und weitere Organe betroffen sein, es kann sogar bei Nichteinhaltung der Diät ein über 100-fach erhöhtes Risiko für Magen-Darm-Tumore auftreten. Wie krank Nahrungsmittelunverträglichkeiten machen können – damit beschäftigt sich die Wissenschaft jetzt seit einigen Jahren und gewinnt immer wieder neue Erkenntnisse.
Leading Medicine Guide: In Ihrer Praxisklinik für Gastroenterologie in Frankfurt führen Sie die Konfokale Laser-Endomikroskopie durch. Ist das eine sehr aufwändige Untersuchung?
Prof. Dr. med. Güldütuna: Es gibt bisher noch nicht viele Zentren in Deutschland, die diese Untersuchung anbieten. Es ist ein kompliziertes Verfahren, das viel Erfahrung erfordert. Und es reicht ja nicht nur, die Untersuchung zu machen, man muss den Patienten ja auch anschließend angemessen beraten und unterstützen können. Ich arbeite mit einem hochauflösenden Endoskop und einer Mikroskopiersonde, die eine bis zu 1000-fache Vergrößerung liefert. Damit sehen wir die Zotten oder Epithelzellen ganz riesig groß. Die stehen quasi wie Soldaten nebeneinander, es sieht aus wie Handschuhfinger. Um im Laserlicht etwas sehen zu können, haben wir vorher dem Patienten das Kontrastmittel Fluorescein gespritzt. Dann geben wir nacheinander kleine Lösungsmengen mit den verschiedenen Nahrungsmitteln auf die Darmschleimhaut ein. Verträgt der Patient beispielsweise Weizen nicht, sehen wir ganz verblüffende Bilder: Die Darmzotten weichen auseinander, die Schleimhaut wird durchlässig, bei einer heftigen Reaktion brechen die Epithelzellen sogar ab. Sie können sich zwar regenerieren, aber wenn noch Entzündungsprozesse hinzukommen, dann erholen sie sich nicht mehr, sie gehen kaputt. Wenn direkt bei der ersten Nahrungsmittellösung eine starke Reaktion kommt, dann können wir nicht mehr weiter testen.
Leading Medicine Guide: Wo liegt aktuell Ihr Focus bei der Forschung?
Prof. Dr. med. Güldütuna: In meine Praxisklinik für Gastroenterologie in Frankfurt am Main kommen sehr viele Patienten mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Allergien. Mit unseren Untersuchungsergebnissen sind wir dabei, eigene, belastbare Statistiken zu dem Thema aufzustellen. Ich kenne praktisch alle Studien in diesem Bereich, sowohl nationale, als auch internationale. Weil ich täglich mit so vielen Anfragen – gerade auch von jungen Leuten – zu dem Thema konfrontiert bin, möchte ich in Zukunft das Internet stärker zur Aufklärung nutzen. Denn ich sehe, dass hier ein enormer Bedarf besteht und da kann ich mit meinem Fachwissen doch einiges beisteuern.
Herr Prof. Güldütuna, wir danken Ihnen sehr für das interessante Gespräch und den Einblick in die Fortschritte über ein Thema, das viele von uns betrifft. Wer direkten Kontakt zu unserem Experten aufnehmen will, kann das auf seiner Profilseite des Leading Medicine Guide direkt tun.