Priv.-Doz. Dr. med. Ralf Hempelmann ist seit 2010 Leitender Arzt für Neurochirurgie und Wirbelsäulenchirurgie an der Helios ENDO-Klinik Hamburg und hat Erfahrung in der Behandlung von Wirbelsäulenerkrankungen. Die Abteilung, die er gemeinsam mit Dr. med. Alexander Richter, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, leitet, ist auf wirbelsäulenchirurgische Eingriffe spezialisiert.
Dr. Hempelmann verfügt über Zertifikate in der spinalen Neurochirurgie der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie und das Master-Zertifikat der Deutschen Wirbelsäulengesellschaft, die seine hohe Qualifikation in der Wirbelsäulenmedizin belegen. Insgesamt hat er in seiner Laufbahn mehr als 5.000 operative Eingriffe durchgeführt. Seine Arbeit umfasst unter anderem Bandscheiben-Operationen, operative Dekompressionen zur Entlastung des Wirbelkanals, Stabilisierung und Korrektur von Wirbelsäulenfehlstellungen und segmentalen Instabilitäten, die Entfernung von Tumoren im Wirbelkanal und periphere Nerven-Dekompressionen.
Die Redaktion des Leading Medicine Guide fokussierte in einem Gespräch mit Dr. Hempelmann auf die Spinalkanalstenose.
Spinalkanalstenose – ein Begriff, der vielen zunächst fremd erscheint, der jedoch für Betroffene mit einschneidenden Einschränkungen im Alltag verbunden ist. Diese Verengung des Wirbelkanals kann zu starken Schmerzen, Taubheitsgefühlen und sogar Bewegungseinschränkungen führen, die das Leben nachhaltig beeinträchtigen. Wie kommt es zu dieser Verengung? Warum sind einige Menschen besonders betroffen? Und vor allem: Welche Möglichkeiten der Behandlung stehen zur Verfügung, um die Lebensqualität zu verbessern und die Beweglichkeit zurückzugewinnen?
Im Gegensatz zu anderen Rückenerkrankungen, bei denen meist nur bestimmte Nervenwurzeln betroffen sind, handelt es sich bei der Spinalkanalstenose um eine strukturelle Verengung des gesamten Spinalkanals. Diese umfasst oft mehrere Segmente der Wirbelsäule, was die Vielzahl und Variabilität der Symptome erklärt.
„Wir reden im Folgenden über die Spinalkanalstenose der Lendenwirbelsäule (LWS): Sehr typisch für die Spinalkanalstenose, also die Einengung des Wirbelkanals der LWS sind Beschwerden, die beim Gehen auftreten. Oftmals beginnen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und strahlen von dort in eines oder in beide Beine ein. Die Beschwerden können mit Gefühlsstörungen in den Beinen einhergehen und in eher seltenen Fällen bei einer hochgradigen Stenose auch mit einer vorübergehenden Schwäche und Koordinationsstörung der Beine. Die Beschwerden können auch einseitig sein. Typischerweise werden die Beschwerden weniger, wenn man pausiert, sich hinsetzt oder sich kurz nach vorn beugt, weil sich dadurch der Wirbelkanal etwas erweitert. Dieses zwischenzeitliche Stehenbleiben wird als Claudicatio bezeichnet. Daher können viele Patienten gut und kilometerweit Fahrrad fahren, während sie oftmals nur wenige zig Meter gehen können. Die Symptomatik überlappt sich mit derjenigen anderer Wirbelsäulenerkrankungen, bei vielen anderen Erkrankungen kann es aber auch einen starken Schmerz in Ruhe geben, so z.B. bei bestimmten Bandscheibenvorfällen oder auch bei einer Wirbelsäuleninstabilität oder einer Entzündung. Ein solcher Ruheschmerz ist bei einer Spinalkanalstenose der LWS eher untypisch. Die Claudicatio, die durch eine Stenose der Wirbelsäule hervorgerufen ist, also die Claudicatio spinalis, unterscheidet sich von der Claudicatio intermittens, die durch arterielle Durchblutungsstörungen bedingt ist, unter anderem dadurch, dass die Gehstrecke bei der Claudicatio spinalis unterschiedlich lang sein kann, während sie bei der Claudicatio intermittens oftmals recht regelmäßig mit immer gleicher Gehstrecke eingeschränkt ist. Außerdem haben Patienten mit Durchblutungsstörungen auch bei Belastungen wie dem Fahrradfahren Beschwerden“, schildert PD Dr. Hempelmann die verschiedenen Symptome.
Die zuverlässigste Diagnose einer Spinalkanalstenose erfordert eine Kombination aus einer sorgfältigen klinischen Untersuchung, bildgebenden Verfahren und einer detaillierten Anamnese. Ziel ist es, die Verengung des Spinalkanals nachzuweisen, den Schweregrad der Erkrankung zu bestimmen und andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen.
Zur Diagnostik erklärt PD Dr. Hempelmann: „Am wichtigsten sind die Symptome der Patienten, also die Erhebung der Vorgeschichte, der Anamnese. Keine oder geringe Schmerzen in Ruhe, Beschwerden im Rücken und den Beinen beim längeren Stehen und beim Gehen, wiederum keine oder geringe Schmerzen beim Fahrradfahren weisen auf die Erkrankung hin. Notwendig ist dann natürlich die gründliche klinisch-neurologische Untersuchung. Oftmals ist der klinische Befund recht unauffällig, da die Patienten in Ruhe kaum Beschwerden haben. Bei vielen Patienten fehlen die Muskeleigenreflexe. Wichtig ist diese Untersuchung zur Differenzialdiagnostik (Unterscheidung von anderen orthopädischen, neurologischen oder auch internistischen Erkrankungen). Das diagnostische technische Verfahren der Wahl ist die Kernspintomografie, also die MRT (Magnetresonanztomografie). Wenn diese nicht möglich ist, müsste auf die CT, die Computertomografie ausgewichen werden. Weitere Maßnahmen zur diagnostischen Eingrenzung wie lokale Infiltrationen (Spritzen) sind bei klarer Anamnese und MRT-Diagnostik meistens nicht erforderlich“.
Für das MRT liegt der Patient entspannt in einer Röhre, während magnetische Felder detaillierte Bilder erzeugen. Die Untersuchung dauert etwa 20–40 Minuten und erfordert keine besondere Vorbereitung.
Beim CT liegt der Patient auf einer Liege, die durch den Scanner fährt. Falls eine Myelographie notwendig ist, wird zuvor ein Kontrastmittel in den Wirbelkanal injiziert, was in der Regel unter örtlicher Betäubung geschieht.
Die konservative Therapie ist die erste Wahl bei leichter bis moderater Spinalkanalstenose und zielt darauf ab, die Symptome zu lindern, die Mobilität zu verbessern und die Lebensqualität zu steigern.
Die Entscheidung, welche Maßnahmen am besten geeignet sind, hängt von der individuellen Symptomatik und dem Schweregrad der Erkrankung ab. Eine Operation sollte dann in Betracht gezogen werden, wenn die konservativen Methoden ausgeschöpft sind und die Beschwerden dennoch stark bleiben oder sich verschlimmern. Hierzu formuliert PD Dr. Hempelmann: „Physiotherapie ist gegen die Rückenschmerzen und auch gegen ausstrahlende Schmerzen wirksam, vor allem auch, und dies gilt für viele Wirbelsäulenerkrankungen, der Aufbau der gesamten Rumpfmuskulatur, wobei ich sehr viel von isometrischen Übungen halte, weil diese zu keiner Belastung der Wirbelsäulen-Strukturen führen. Physiotherapie führt natürlich nicht zu einer Erweiterung des Spinalkanals, aber eine trainierte Muskulatur lindert aus unterschiedlichen Gründen Schmerzen. Und muskuläre Schmerzen sind praktisch immer ein wichtiger Bestandteil von Rückenschmerzen. Und wenn man doch irgendwann operiert werden muss, weil die konservative Therapie eventuell nicht dauerhaft zu einer Besserung führt, so ist eine trainierte Muskulatur auch ein wichtiger Faktor für einen guten Verlauf nach der Operation. Der Aufwand wäre also nicht umsonst gewesen. Im Allgemeinen gilt bei Rückenschmerzen im Alter, und dies gilt auch für die Schmerzen bei Stenose: Die Physiotherapie muss vor allem aus aktiven Übungen bestehen, Training der Muskulatur steht vorne an. Passive Maßnahmen wie Massage, Wärme und andere sind immer so lange gut und angenehm, wie sie gerade angewendet werden. Nachhaltig und zielführend aber sind aktive Übungen. - Medikamentöse Therapie kann die konservative Behandlung eine Zeit lang begleiten, und dann würden die gängigen Schmerzmedikamente gegeben werden wie Antiphlogistika, hierzu gehören Ibuprofen oder Diclofenac. Bei Kontraindikation für Antiphlogistika, z.B. bei Herz- und Gefäß-Patienten, alternativ das Metamizol“.
Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) spielen eine zentrale Rolle bei der Diagnose und Behandlungsplanung von Spinalkanalstenosen.
Die MRT bietet detaillierte Einblicke in die Weichteile und Nervenstrukturen, während die CT die knöchernen Veränderungen hervorragend darstellt.
„MRT-Bilder helfen sehr genau, Lokalisation und Ausmaß der Stenose festzustellen. In bestimmten Fragestellungen, z.B. bei der Frage, wie man im Falle einer zusätzlichen Segment-Instabilität operieren sollte, können zusätzliche CT-Aufnahmen indiziert sein. Auch für die normale Röntgenbildgebung im Stehen besteht weiterhin eine Indikation. Für die operative Entscheidung sind dann die Anamnese und die klinische Untersuchung von Bedeutung. Denn oftmals ist es bei mehreren degenerativ deutlich veränderten Segmenten nur ein Segment, das die hauptsächliche Ursache der Schmerzen darstellt. Dies kann man meistens durch eine gute Befragung und Untersuchung der Patienten herausbekommen. Dann sollte man auch nur dieses Segment operieren, um einen operativen Eingriff möglichst gering zu halten. Man sollte niemals mehr operieren als notwendig. Denn es gibt fast keine Indikation für eine prophylaktische, also vorbeugende Operation bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen“, so PD Dr. Hempelmann.
Die mikrochirurgische offene Operation ist der Goldstandard bei der Spinalkanalstenose.
PD Dr. Hempelmann erklärt die Unterschiede der Operationsformen: „Der gängige Eingriff bei einer Spinalkanalstenose ist die Mikroskop-unterstützte Dekompressionsoperation, also die mikrochirurgische Operation. Hierzu nimmt man kleine Sperrer, der Hautschnitt ist dann bei einer einsegmentigen Operation etwa 3-4 cm lang. Dies ist heutzutage der Goldstandard, an dem sich andere operative Verfahren messen lassen müssen. Man kann auch perkutan operieren, also über Röhrchen, Tubuli, die nur zu einer Aufweitung der Muskulatur und dadurch zu einem geringeren Muskelschaden führen, dies gilt auch für endoskopische Operationen, die ebenfalls bei Stenose möglich sind. Vor allem in der frühen Phase nach der Operation haben diese minimal-invasiven Verfahren den Vorteil, dass im Schnitt weniger Schmerzmittel eingenommen werden müssen, und dass der Klinikaufenthalt etwas kürzer ist. Langfristig ist es meines Wissens bislang nicht belegt, dass diese Operationen einen signifikanten Vorteil gegenüber den mikrochirurgischen offenen Operationen bieten. Sie habe auch Nachteile, nämlich eine lange Lernphase der Operateure. Insgesamt sind mikrochirurgische wie auch minimal-invasive Eingriffe gleichermaßen anerkannt und praktisch vergleichbar gut wirksam, weshalb beide Vorgehensweisen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen“.
Die Spinalkanalstenose ist eine degenerative Erkrankung, die vor allem durch unsere genetische Veranlagung und den natürlichen Alterungsprozess beeinflusst wird. Obwohl diese Faktoren nicht veränderbar sind, spielt die Akzeptanz der Erkrankung eine entscheidende Rolle für den Umgang mit ihr.
„Gegen unsere Gene und das Älterwerden können wir bislang nichts machen, und aus meiner persönlichen Sicht ist das auch gut so. Diese Erkrankung ist also im Wesentlichen schicksalhaft, und daher können die meisten Patienten sie auch als solche akzeptieren und damit zurechtkommen. Denn Schuldzuweisungen, nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber z.B. wegen des Lebensstils, führen zu einem schlechteren Heilungsverlauf. Der Beruf, die Lebensweise spielen eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt. Wir haben Stenose-Patienten aus allen Berufsgruppen und mit den unterschiedlichsten Lebensstilen. Da Bandscheibendegenerationen auch eine Rolle in der Entstehung der Spinalkanalstenose spielen, ist die Beendigung des Rauchens zu empfehlen, denn Rauchen und andere Ursachen von Arteriosklerose sind Faktoren für beschleunigten Bandscheiben-Verschleiß. Gegen Rückenschmerzen allgemein ist die beste Prävention die körperliche Aktivität und der Aufbau der Muskulatur. Dies gilt für die primäre Entstehung von Rückenschmerzen wie auch für die Prävention von Rückfällen“, verdeutlicht PD Dr. Hempelmann, und damit schließen wir unser Gespräch.
Vielen Dank, Herr Dr. Hempelmann für diesen informativen Einblick in den Umgang mit Spinalkanalstenose!