Beinlängendifferenz (ICD-Code: Q72.9) ist die medizinische Bezeichnung für einen Längenunterschied der Beine. Die Diagnose und Behandlung fällt in den Behandlungsbereich der Orthopädie. Die Differenz bezieht sich auf die Länge der Beine von der Hüfte bis zum Fuß.
Bei schätzungsweise 10 - 30 % der Menschen besteht eine solche Differenz.
Normal proportioniertes Skelett mit Beinknochen ohne Längenunterschied. Dadurch bleiben Becken und Wirbelsäule in ihrer physiologischen Ausrichtung und Statik. © Alexandr Mitiuc / Fotolia
Solange sie nur gering ausgeprägt ist, besteht kein Therapiebedarf. Bei nur 1 bis 2 Millimetern Differenz gleicht der Körper den Unterschied noch gut alleine aus.
Eine Therapie ist dann notwendig, wenn der Unterschied der Beine einen bestimmten Wert übersteigt. Dabei gilt:
- bei Kindern mehr als 0,5 cm Beinlängenunterschied
- und bei Erwachsenen mehr als 1 cm.
Beinlängendifferenzen bei Kindern verändern sich oft noch im Lauf der Entwicklung. Dennoch müssen sie beobachtet und regelmäßig kontrolliert werden.
Viele Menschen sind von einem Unterschied der Beinlängen betroffen. Bei leichten Formen sind keine Beschwerden zu erwarten. Der Körper kann die Differenz dann noch kompensieren.
Bei schwereren Formen ist es wichtig, zügig die richtige Behandlung einzuleiten, um Langzeitschäden zu vermeiden.
Das Skelett und der Bewegungsapparat mit
- Knochen,
- Gelenken,
- Muskeln und
- Sehnen
sind bei jedem Menschen individuell beschaffen. Sie folgen aber immer physiologischen, das heißt naturgemäß gesunden Prinzipien. Dazu gehört der Aufbau des Körpers über
- den Rumpf (Oberkörper),
- den Achsen der Gliedmaßen (Arme und Beine) und
- den Kopf.
Veränderungen der Gelenkpositionen, Achsenausrichtung und Asymmetrien haben dabei Folgen für das ganze System.
Die Auswirkungen können gravierend sein, besonders auf die Wirbelsäule. Das Becken verlagert sich bei unterschiedlich langen Beinen zu der verkürzten Seite. Es kippt aus seiner waagrechten Position und so resultiert aus einer Beinlängendifferenz meistens auch ein Beckenschiefstand. Das Becken steht auf der verlängerten Beinseite etwas höher.
Dadurch ist auch die Wirbelsäule betroffen. Sie krümmt sich seitwärts, es entsteht eine leichte oder schwere Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung).
Unterschiedlich lange Beine können verschiedene Ursachen haben. Es gibt eine angeborene und eine erworbene Differenz der Beinlänge. Dabei können zwei Kategorien unterschieden werden:
- Die anatomische bzw. strukturelle Form: Dabei sind sind Knochen tatsächlich länger oder kürzer als beim anderen Bein.
- Die funktionelle Form. Hier bewirken Muskelverkürzungen (Kontrakturen) in Hüfte und Knie den Längenunterschied. Auch dauerangespannte Muskeln können die Ausrichtung der Gelenke verschieben. Dadurch wirkt ein Bein auf einer Seite kürzer.
Liegt schon beim Neugeborenen eine entsprechende Grunderkrankung vor, spricht man von einer angeborenen Beinlängendifferenz. Beispiele dafür sind:
- Gefäßanomalien
- Spitzfuß
- Klumpfuß
- partieller Riesenwuchs
- Hemiatrophie (halbseitiger Gewebeschwund)
- Fehlbildungen und
- Knochensystemerkrankungen (Exostosenkrankheit).
Auch Gelenkserkrankungen oder Einschränkungen der Gelenksbeweglichkeit können die Störung auslösen
Eine erworbene Beinlängendifferenz entsteht im Lauf des Lebens. Ursachen können sein:
- Unfälle
- Knochenbrüche (Frakturen)
- Infektionen
- Lähmungen
- Strahlenschäden
- Tumore
- langfristige Ruhigstellung
- Fehlhaltung und
- einseitige Belastung.
Beinbrüche im Wachstumsalter können die knorpeligen Wachstumsfugen der gebrochenen Knochen beeinträchtigen.
Für das Knochenwachstum sind spezielle Knochenzellen verantwortlich. Störungen können dazu führen, dass die fürs Wachstum zuständigen Knochenzellen in einem der Beine aktiver sind als im anderen. Auch durch übermäßiges Längenwachstum können unterschiedliche Beinlängen entstehen. Diese gleichen sich jedoch oft spontan im Lauf der Entwicklung aus.
Nach Abschluss des Längenwachstums korrigiert der Organismus die unterschiedlichen Beinlängen nicht mehr spontan. Die gewohnheitsmäßigen Anpassungen oder Fehlstellungen von Wirbelsäule und Gelenken schreiten dann weiter fort.
Der Bewegungsapparat wird verstärkt belastet, wenn eine größere Beinlängendifferenz vorliegt. Der Körper muss die Längenunterschiede ausgleichen. Dadurch verschieben sich der Hüftbereich und die Wirbelsäule. Die Neigung und Drehung des Beckens wird durch eine erhöhte Krümmung der Wirbelsäule nach vorne (Lordose) ausgeglichen.
In vielen Fällen entsteht ein Schulterschiefstand auf der Körperseite, auf der das Bein länger ist. Auch der Kopf neigt sich oft seitlich zum kurzen Bein.
Häufig entstehen Schmerzen am Übergang von der Lendenwirbelsäule zum Kreuzbein. Weitere mögliche Beschwerden sind
- chronische Rückenschmerzen,
- Beschwerden und Schmerzen beim Stehen und Gehen sowie
- Kopf- und Kieferschmerzen durch Verspannungen.
Rechts eine gesunde Wirbelsäule, links eine seitlich verbogenen Wirbelsäule (Skoliose) aufgrund einer Beinlängendifferenz © Koterka Studio | AdobeStock
Eine schwerwiegende Folge einer Beinlängendifferenz kann die Entwicklung einer Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung) sein. Sie bildet sich, wenn der Hüftknochen aufgrund der Beinlängendifferenz verschoben ist. Die Wirbelsäule muss sich nach links krümmen, um dem Kopf zu ermöglichen, gerade zu stehen.
Dieser Prozess kann gravierende Folgen haben. Zwischen den knöchernen Wirbelfortsätzen liegen kleine Gelenke. Diese können sich verkanten, wenn sich die Wirbel gegeneinander verbiegen. Man spricht dann von einer Facettengelenkblockade. Mögliche Folgen sind
- schmerzhafte Entzündungen,
- eine schlechtere Beweglichkeit der Wirbelsäule sowie
- Nervenquetschungen im Wirbelbereich.
Im Bereich des Beckens liegen die Iliosakralgelenke. Das sind die beiden Gelenke, an denen das Kreuzbein im Beckenring befestigt ist. Diese können sich verkanten. Dadurch ist die Beweglichkeit im Beckenbereich stark gestört.
Auch die beiden Schambeinknochen können schmerzhaft betroffen sein.
Anatomischer Aufbau des Hüftgelenks © Henrie / Fotolia
Eine große und dauerhafte Beinlängendifferenz führt zu Veränderungen in der Körperhaltung. Die Wirbelsäule ist nachhaltig beeinträchtigt. Die Wirbel und Bandscheiben verschleißen schneller durch die Verkrümmung, das Risiko für Arthrose ist erhöht.
Mittels körperlicher Untersuchung stellt der Arzt fest, ob Becken und Wirbelsäule schief sind. Dazu tastet er die Beckenkämme und die Wirbelsäule ab.
Darüber hinaus misst der Arzt die Länge der Beine mit einem Maßband. Er setzt es an einem tastbaren Höcker am Knochen des Oberschenkels auf Höhe der Hüfte an. Die Länge wird bis zum äußeren Knöchel gemessen.
Ein genaueres Bild ergibt eine Röntgenaufnahme oder ein Ultraschall (Sonographie). Per dreidimensionaler Wirbelsäulenmessung kann eine exakte Analyse vorgenommen werden. Damit lässt sich das Ausmaß der Wirbelsäulenverkrümmung und des Beckenschiefstands feststellen. Dafür wird ein spezielles Videoverfahren eingesetzt.
Per Computer lässt sich anschließend errechnen, in welcher Höhe die Schuheinlage gefertigt werden muss. Mit dieser Schuheinlage wird die Beinlängendifferenz ausgeglichen.
Der diagnostische Prozess muss identifizieren, ob eine tatsächliche Beinlängendifferenz vorliegt, oder ob es sich um eine funktionelle Form handelt. Ein funktionell begründeter Unterschied der Beinlängen wird prinzipiell anders therapiert als eine anatomische Beinlängendifferenz.
Behandlungsansätze sind je nach Form und Ursache der Beinlängendifferenz entweder
- Physiotherapie,
- ein Ausgleich der Beinlängendifferenz durch orthopädische Schuhe oder
- eine Operation.
Bei der funktionellen Beinlängendifferenz wird oft Physiotherapie und eine intensive Weichteilbehandlung eingeleitet. In manchen Fällen ist auch ein chirurgischer Weichteileingriff angezeigt.
Bei der anatomischen Beinlängendifferenz reichen in vielen Fällen orthopädische Schuheinlagen zur Korrektur aus. Je früher die Diagnose gestellt wird, desto größer sind die Erfolgsaussichten auf einen Ausgleich der Beinlängen. Einlagen erhöhen das kürzere Bein und ermöglichen eine Begradigung des Beckenschiefstandes.
Der Effekt orthopädischer Schuhe liegt an der Absatzerhöhung, durch die bis zu 12 cm ausgeglichen werden können.
Ist der Unterschied sehr stark, können verschiedene orthopädische Eingriffe zum Einsatz kommen.
Bei Jugendlichen in der Wachstumsphase kann beispielsweise mit einem minimalen Eingriff das längere Bein im Wachsen gebremst werden. Die Wachstumsfuge im Bein muss dabei noch geöffnet sein, daher ist diese Methode nach Abschluss des Wachstums nicht mehr möglich.
Nach dem Abschluss des Längenwachstums gibt es eine weitere wirkungsvolle Methode. Mittels einer besonderen chirurgischen Technik lässt sich das kürzere Bein langsam in die Länge ziehen. So verlängert es sich um etwa einen Millimeter pro Tag.